MEDIENDIENST: Nach den sexuellen Übergriffen in der Silversternacht in Köln sind inzwischen etwa mehr als 100 Strafanzeigen gestellt worden, wie Medien berichten. Außerdem sind die ersten Tatverdächtigen festgenommen worden. Wie sehen Sie, was vor einer Woche am Kölner Hauptbahnhof passiert ist?
Ahmet Toprak: Dort wurden Frauen in erschütternder Weise sexuell angegriffen. Es gab Belästigungen, Übergriffe und mutmaßlich auch Vergewaltigungen. Das scheint eine neue Dimension zu sein. Gruppen von Jugendlichen mit Migrationshintergrund, die sich untereinander auf der Straße prügeln, das gab es zwar schon häufiger. Solche gewalttätigen Gruppendynamiken kenne ich aus meiner Arbeit mit diesen Jugendlichen. Aber die Art und Weise, mit der hier unbeteiligte Frauen angegriffen wurden, scheint mir doch etwas Neues.
Welche "gewalttätigen Gruppendynamiken" meinen Sie damit?
Ich will damit nichts relativieren, aber ich denke, dass gruppendynamische Prozesse vor dem Hauptbahnhof in Köln eine extrem große Rolle gespielt haben. Man kennt das aus vielen Zusammenhängen, dass junge Männer, die in Gruppen unterwegs sind, gewalttätig werden können. Einer will den anderen bei solchen Übergriffen dann noch übertreffen und die Gruppe steigert sich in eine Art Rausch.
Gibt es kulturspezifische Gründe dafür, wie die Täter gehandelt haben?
Prof. Dr. AHMET TOPRAK ist Erziehungs-Wissenschaftler in Dortmund an der Fachhochschule. 2010 hat er eine Studie zu "Gewaltphänomenen bei männlichen, muslimischen Jugendlichen mit Migrationshintergrund und Präventionsstrategien" für das Bundes-Familienministerium mitverfasst. Er ist außerdem Mitglied der "Deutschen Islam Konferenz" (DIK) in der Arbeitsgruppe „Deutsche Gesellschaftsordnung und Wertekonsens“. Foto: FH-Dortmund
Ich würde es nicht zuallererst kulturspezifisch erklären, sondern mit Männlichkeitsbildern. Natürlich sind solche Vorstellungen kulturell geprägt, darüber, wie ein Mann in der Öffentlichkeit auftreten soll. Aber das geht über einzelne Kulturen hinaus. Ich kenne aus meiner Arbeit einen Fall in München, bei dem sich 1998 etwa 80 türkische und albanische Jugendliche geprügelt haben. Ein Jugendlicher hatte den anderen in seinem Stolz verletzt und keiner wollte nachgeben. Aber auch in anderen Gruppen kennen wir solche Prozesse: In der rechten Szene zum Beispiel gab es gewalttätige Übergriffe, die sich so erklären lassen.
Nach den Ereignissen in Köln wurden besonders die Männlichkeitsvorstellungen in "muslimischen Kulturen" kritisiert. Zu Recht?
Es ist noch sehr früh, um hier Aussagen zu treffen. Für die Einwandererkinder aus muslimischen Elternhäusern in Deutschland spielt "Männlichkeit" in der Zeit des Heranwachsens eine wichtige Rolle. Aber auch "Solidarität" untereinander ist ein hoher Wert, der manchmal wichtiger ist als die geltenden Gesetze. Bei einem gewalttätigen Übergriff beschützen manche Jugendliche dann eher die Täter, weil es eben Freunde sind, oder sie machen sogar mit.
Nach dem bisherigen Ermittlungsstand sind unter den Tatverdächtigen auch Flüchtlinge gewesen. Ohne die Taten zu relativieren, müssen wir überlegen, wie so etwas passieren konnte. Diese Männer kommen nach Deutschland und leben oft monatelang unter sich, in Turnhallen oder Heimen, wo sie sich langweilen und rund um die Uhr überwacht werden. Das erzeugt Frust. Außerdem ziehen sie offenbar die völlig falschen Schlüsse aus dem selbstbewussten Auftreten von Frauen im öffentlichen Raum.
Teilen Sie die Forderungen, die Täter hart zu bestrafen und auch das Asylrecht zu verschärfen?
Angst vor Strafe hält die Täter erfahrungsgemäß nicht von solchen Taten ab. Natürlich müssen die Täter wie alle anderen Straftäter verurteilt werden. Aber das dauert ein paar Jahre und wird unser Problem kurzfristig nicht lösen. Die Täter sollten bestraft werden und allen anderen Flüchtlingen sollte ein besserer Zugang zu unserer Gesellschaft ermöglicht werden. Das Asylrecht ist streng genug. Es dürfte kaum möglich sein, hier noch weiter zu verschärfen.
Sehen Sie anderen Handlungsbedarf?
Wir sollten Flüchtlingen mehr Beschäftigungsmöglichkeiten bieten, zum Beispiel auch ehrenamtliche Aufgaben. Außerdem sollten sie so schnell wie möglich dezentral untergebracht werden, damit sich nicht diese homogenen Gemeinschaften in den Sammelunterkünften bilden. Seit Kurzem dürfen ja einige Flüchtlinge an Integrationskursen teilnehmen. Dort muss offen über Geschlechterrollen und Sexualität hierzulande gesprochen werden, damit die Männer mehr kennenlernen als ihr traditionelles Frauenbild.
Interview: Carsten Janke
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