Zu viele Neubauten, überfüllte Busse und Züge, steigende Kriminalität – und alles wegen der vielen Ausländer, sagen die Initiatoren des Volksentscheids „gegen Masseneinwanderung“. Angeführt von der rechtspopulistischen Schweizer Volkspartei (SVP) wollen sie nun eine staatlich festgesetzte Einwanderungsquote einführen.
Die Umfragen vor der Abstimmung am 9. Februar haben bereits darauf hingedeutet, dass es ein Kopf-an-Kopf-Rennen werden würde, bei dem wenige Stimmen entscheidend sein könnten. Und so kam es auch: Mit 50,3 Prozent Ja-Stimmen war die SVP-Initiative laut vorläufigen Ergebnissen der Schweizer Eidgenossenschaft erfolgreich. Der Vorsprung betrug lediglich 19.526 Stimmen.
Bei der Debatte geht es nicht – wie etwa in Deutschland – um "Armutszuwanderer" aus Osteuropa, für die ohnehin eine Einwanderungssperre gilt. Die Schweizer fürchten auch keinen Ansturm auf ihr Sozialsystem und keine Flüchtlingswelle. Zwar ist der Ausländeranteil in der Schweiz mit etwa 22 Prozent einer der höchsten weltweit. Doch die Ausländer, die in die Eidgenossenschaft ziehen, sind überwiegend hochqualifizierte Erwerbstätige auf der Suche nach besseren Löhnen. Migranten tragen hier zum Wirtschaftswachstum bei. Die Daten der Schweizer Arbeitskräfteerhebung 2012 zeigen: Die Zahl der erwerbstätigen Ausländer steigt in der Schweiz stärker, als die der Schweizer Arbeitnehmer.
Gianni D'Amato, Professor für Migration und Staatsbürgerschaft an der Universität Neuchâtel und Direktor des Schweizerischen Forums für Migrations-und Bevölkerungsstudien (SFM), erklärt das Motiv so: „Die Befürworter der SVP-Initiative sagen, uns geht es gut, wozu brauchen wir mehr Wachstum? Wachstum bringt nur Probleme mit sich. Die Zuwanderer brauchen mehr Wohnraum und mehr Infrastrukturen. Und langsam wird es eng.“
Politiker und Wirtschaftsvertreter bezogen bereits im Vorfeld Stellung gegen den Volksentscheid. Denn die Schweiz profitiert so stark wie kein anderes Land von seiner Ausländerbevölkerung. Die OECD verdeutlichte das im „Internationalen Migrationsausblick 2013“: Migranten in der Schweiz haben die Nettoeinnahmen des Staats um mindestens 6,5 Milliarden Schweizer Franken im Jahr gesteigert.
Die SVP setzt mit der Initiative bewusst die Zukunft der Beziehungen zwischen der Schweiz und der EU aufs Spiel. Denn in den bilateralen Verträgen mit der EU ist eine sogenannte Guillotine-Klausel enthalten, die im Fall eines einseitigen Vertragsbruchs zur Auflösung der Abkommen führt. In einer Pressemitteilung bedauerte die Europäische Union ausdrücklich das Ergebnis des Volksentscheids. Der Präsident des europäischen Parlaments Martin Schulz sagte am Sonntag am Rande einer Israelreise, dass die Wiedereinführung von Grenzkontrollen nicht auszuschließen sei.
Die Wirtschaft will mehr Zuwanderung
Das macht vor allem der Schweizer Industrie Sorgen. Die EU ist der wichtigste Handelspartner der Eidgenossenschaft. Rund 80 Prozent der schweizerischen Importe stammen aus der EU, und rund 60 Prozent ihrer Exporte gehen in die EU. Außerdem wäre mit einem enormen Bürokratieanstieg zu rechnen, sollte Personal künftig „unter Berücksichtigung eines Vorranges für Schweizerinnen und Schweizer“ rekrutiert werden, wie von der SVP gefordert.
Tatsache ist, dass die Schweiz seit den 60er Jahren bis 2002 immer wieder Maßnahmen zur Begrenzung von Zuwanderung ergriff. Bereits 1970 dachten die Schweizer anlässlich einer Initiative des Natrionalfront-Abgeordneten James Schwarzenbach über restriktive Einwanderungsquoten nach. Wie der aktuelle Volksentscheid fand auch dieser in einer Aufschwungphase mit wachsender Bevölkerungszahl statt. Die Initiative scheiterte damals knapp. Trotzdem begann die Zahl der Neuzuwanderer kurz darauf zurückzugehen. Was war passiert? „Die Ölkrise der 70er Jahre hatte die Industrie in die Knie gezwungen“, erklärt Migrationsforscher D'Amato, SVR-Mitglied in Deutschland. „Mehr als die Politik haben bislang die wirtschaftlichen Umstände den Anstieg oder den Rückgang der Einwanderungszahlen beeinflusst."
Trotz des Präzedenzfalls hatte der Schweizer Bundesrat schon seit Monaten große Sorge vor einem Erfolg der Ja-Partei und ergriff dementsprechend restriktive Maßnahmen. So nahmen die Regierungsparteien schon im Mai vergangenen Jahres eine „Ventilklausel“ der bilateralen Verträge mit der EU in Anspruch und schränkten die Zahl der einjährigen Aufenthaltsbewilligungen für Unionsbürger ein. Im Januar präsentierte die Regierung zudem eine Maßnahme, die arbeitslose EU-Staatsbürger daran hindern soll, in der Schweiz eine Niederlassungsbewilligung zu erhalten.
"Dichtestress" durch zu viele Deutsche
Besonders in Zürich schauen viele Schweizer besorgt auf den Zustrom neuer Einwohner – vor allem aus Deutschland. „Es hätt zvill Tüütschi!“, rief die SVP-Abgeordnete Natalie Rickli vor zwei Jahren im Schweizer Fernsehen. Tatsächlich gab es in den letzten Jahren einen markanten Zuwachs der deutschen Bevölkerung. Inzwischen leben laut Schweizer Statistikamt etwa 290.000 Deutsche im Land und machen 15,2 Prozent aller Ausländer aus. Nach den Italienern sind sie die zweitgrößte Ausländercommunity der Eidgenossenschaft. „In der deutschen Schweiz – vor allem in den Städten – ärgert man sich über den so genannten 'Dichtestress', der aus einem starken Bevölkerungszuwachs hervorgehen würde“, sagt Professor D'Amato.
„Die Medien haben so viel über die deutsche Einwanderung berichtet, dass sich allmählich vor allem in Universitäten und Krankenhäusern ein gewisses Unbehagen gegenüber Deutschen entwickelt“, erklärt er weiter. „Jetzt sagen viele: Die Deutschen kommen hierher, kaufen Wohnungen im Stadtzentrum, treiben die Mieten in die Höhe und verdrängen somit die Schweizer aus dem Viertel.“
Von Fabio Ghelli
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