MEDIENDIENST: Herr Hövermann, eine Studie der Universität Bielefeld, die Sie mitverfasst haben, kommt zu deutlich anderen Ergebnissen als die Kriminalstatistik. Wie sind die Zahlen einzuschätzen?
Andreas Hövermann: Unsere Studie ist neben der Kriminalstatistik ein weiteres Puzzlestück, um ein realistischeres Bild von antisemitischen Übergriffen zu erhalten. Mit unserer Studie wollten wir explizit jüdische Perspektiven auf Antisemitismus sichtbar machen und haben nach konkret erlebtem Antisemitismus, aber auch nach versteckten Andeutungen gefragt. Der direkte Vergleich der Zahl unserer Studie mit der Kriminalstatistik hinkt an mehreren Stellen: Unsere Studie ist im statistischen Sinne nicht repräsentativ. Wir haben auf Personen zurückgegriffen, die sich bereit erklärten, an der Studie teilzunehmen und sich dabei meist gegenseitig oder über weitere Netzwerke rekrutierten. Dennoch hat eine Fallzahl von über 500 befragten jüdischen Personen eine gewisse Aussagekraft. Bei der konkreten Frage nach körperlichen Übergriffen muss jedoch berücksichtigt werden, dass diese auf einer geringen Fallzahl basiert.
Was heißt das konkret?
Von den insgesamt 553 Befragten äußerten drei Prozent, Opfer körperlicher Angriffe geworden zu sein – das sind konkret 16 Personen. 13 dieser 16 Personen – also 81 Prozent – gaben nun an, dass es sich bei den Tätern um eine "muslimische" Person oder Gruppe handelte. Im Vergleich zu der Anzahl der insgesamt gemeldeten antisemitischen Übergriffe der Kriminalstatistik ist das also ein eher kleiner Ausschnitt. Daneben haben wir festgestellt, dass diese Fragestellung offenbar zu komplex war. Wir haben gefragt, ob die Personen in den vergangenen 12 Monaten "versteckte Andeutungen", "verbale Belästigungen" oder "körperliche Angriffe" erlebt haben. Die Befragten konnten anschließend genauere Angaben machen, von wem die jeweilige Tat ausging. Hier waren Mehrfachnennungen möglich und teils haben die Befragten widersprüchlich geantwortet.
Dr. ANDREAS HÖVERMANN ist Soziologe, Konflikt- und Gewalt- forscher. Seit 2017 ist er mit einem Stipendium der Deutschen Forschungsgemeinschaft als PostDoc an der State University New York, University at Albany (USA). Hier forscht er zu Ursachen und Verbreitung von Vorurteilen und Hate-Crimes. Im Auftrag des "Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus" hat er 2016 in einem Forscher-Team des Instituts für Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld und der FH Frankfurt Juden zu ihren Perspektiven auf Antisemitismus in Deutschland befragt. Foto: Sarah Tabea Meier
Inwiefern widersprüchlich?
Manche Befragte haben Beschreibungen angekreuzt, die sich logisch ausschließen. Zum Beispiel haben sie gesagt, dass eine Tat von einer Einzelperson ausging und gleichzeitig von einem Jugendlichen und einem Erwachsenen. Wenn es aber eine Einzelperson war, kann es entweder nur ein Jugendlicher oder nur ein Erwachsener gewesen sein. Zudem ist zu berücksichtigen, dass die Merkmale, die wir zur Auswahl gegeben haben, unterschiedlich zugänglich sind.
Können Sie das genauer erklären?
Bestimmte Merkmale sind leichter zuschreibbar, da sie beispielsweise in bestimmten Kontexten äußerlich stärker hervorstechen als andere. Ein "deutsch aussehender Nachbar" wird vermutlich eher als "Nachbar" beschrieben, weniger als "christliche Person" – wohingegen ein Nachbar, der "muslimisch" aussieht, eher als muslimische Person beschrieben wird. Das schwächt die Aussagekraft dieser spezifischen Fragestellung und muss bei der Einstufung dieses Befunds im Vergleich mit der Kriminalstatistik berücksichtigt werden.
Liefert die Kriminalstatistik ein genaueres Bild?
Auch die kriminalstatistische Erfassung hat ihre Tücken. Vor allem bei der Frage, wie politisch motivierte Straftaten kategorisiert werden, sind zahlreiche Ungenauigkeiten möglich. Zwar hat sich einiges geändert, so dass Hassverbrechen und vorurteilsbasierte Kriminalität mittlerweile besser erfasst werden können. Dennoch: Es hängt weiterhin von der Sensibilität und dem Kenntnisstand der ermittelnden Beamten ab, ob eine antisemitische Straftat als solche erkannt und der Grund für eine Tat korrekt klassifiziert wird. Wird zum Beispiel kein Täter ermittelt, wird auch die Einordnung der Tätermotivation erschwert oder unmöglich. Darüber hinaus wissen wir, dass die Kriminalstatistik viele antisemitische Übergriffe nicht erfasst. Das belegt auch unsere Studie: Nur rund ein Viertel der Befragten hat einen antisemitischen Vorfall der Polizei oder aber bei einer Beschwerdestelle oder der Gemeinde gemeldet. Dies unterstreicht nochmals, wie wichtig es ist, neben der offiziellen Kriminalstatistik auch die jüdische Perspektive einzufangen, um ein realistischeres Abbild zu bekommen. Wir haben deswegen auch nicht nur nach konkret erlebtem Antisemitismus gefragt, sondern vor allem nach subtileren Formen – also dem, was womöglich nicht so direkt, sondern eher versteckt geäußert wird und kaum in Kriminalstatistiken auftaucht. Die Studie ermöglicht daher wichtige Einblick in eher Verborgenes und kann ein stückweit das sogenannte Dunkelfeld erhellen.
Wie schätzen die Befragten Antisemitismus unter Muslimen oder Flüchtlingen ein?
Unsere Studie liefert Hinweise, dass muslimischer Antisemitismus als großes Problem in der jüdischen Bevölkerung wahrgenommen wird. So sorgen sich 70 Prozent der Befragten, "dass der Antisemitismus in Deutschland zunehmen wird, weil viele Flüchtlinge antisemitisch eingestellt sind". Rund 60 Prozent fühlen sich "in Deutschland als jüdische Person zunehmend unsicher aufgrund der derzeitigen Zuwanderung nach Deutschland". Das wurde auch in zahlreichen Interviews und Erzählungen unserer Studie geäußert. Gleichzeitig zeigte sich aber, dass die Flüchtlingssituation in Deutschland keineswegs von allen Befragten als rein problematisch wahrgenommen wird. Mehr als ein Drittel gab an, dass "die derzeitige Zuwanderung für Juden auch positive Folgen haben" kann.
Ist die Sorge vor einem "importierten Antisemitismus" unter den Befragten die größte?
Sie ist zumindest nicht die Einzige. Auch andere gesellschaftliche Entwicklungen bereiten der jüdischen Bevölkerung Sorge. 75 Prozent äußerten, dass sie sich "in Deutschland als jüdische Person zunehmend unsicher fühlen, aufgrund der rechtspopulistischen Strömungen, wie Pegida und AfD". Das sind noch höhere Zustimmungen als bei der Frage nach Flüchtlingen. Es ist zu einfach, Antisemitismus auf die neu hinzugekommenen Flüchtlinge zu schieben. Das zeigt ein letzter Befund: Eine überwältigende Mehrheit von 84 Prozent äußerte, dass "der Antisemitismus auch ohne Flüchtlinge ein Problem in Deutschland ist".
Interview: Lea Hoffmann
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