Mediendienst: Nach dem Bekanntwerden der Mordserie durch den NSU stellt sich dringender als je zuvor die Frage nach strukturellem Rassismus in der Polizei. Im Abschlussbericht des NSU-Untersuchungsausschusses wird fraktionsübergreifend gefordert: Interkulturelle Kompetenz solle fester Bestandteil bei der Polizeiausbildung werden. Wurde das bisher vernachlässigt?
Thomas Grumke: Es ist vollkommen unbestreitbar, dass es auch auf Seiten der Polizei im Fall NSU zu Fehlleistungen gekommen ist. Die sind gut dokumentiert. Das ist also die Ausgangsposition, auf die man reagieren muss. Was das Land NRW und die Polizeiausbildung dort betrifft, ist der Bereich „interkulturelle Kompetenz“ ein verpflichtendes Modul – das war übrigens schon vor dem Bekanntwerden des NSU so. Fragen von Migration, Integration oder Identität thematisieren wir auch in den Fächern Soziologie und Politik, die ich lehre. Wir diskutieren zum Beispiel darüber, was überhaupt deutsch ist. Das ist wichtig, um sich der Frage anzunähern, wie unsere Gesellschaft aufgebaut ist.
Das hört sich an, als liefe alles gut. Gibt es nichts zu verbessern?
Ich muss vorausschicken, dass ich am Studienort Gelsenkirchen arbeite, also mitten im Ruhrgebiet. Auch meine Studierenden sind von hier und in einer vielfältigen bunten Gesellschaft mit Migranten aus der gesamten Welt aufgewachsen, mit denen sie im Sportverein zusammen waren und privat Zeit verbracht haben. Viele Themen der Einwanderungsgesellschaft sind für sie keine besondere Frage mehr, sondern Alltag. Das ist bei den Polizeigenerationen davor vermutlich anders gewesen. Hinzu kommt: Die frühere Praxis, dass Polizisten von Polizisten lernen, was Polizisten von Polizisten gelernt haben, ist durch das Studium an der Fachhochschule durchbrochen worden. Natürlich müssen bestimmte Fächer wie Einsatz- oder Verkehrslehre weiterhin polizeiintern vermittelt werden. Aber es gibt eine gute Mischung aus wissenschaftlichem Personal und der Polizei.
Zurück zum Fall NSU. Wie sorgt man dafür, dass Polizisten immer in alle Richtungen ermitteln und nicht denken: Da ist ein Araber erschossen worden in einem Migrantenviertel, das wird organisierte Kriminalität sein?
Ich kann hier kein Versprechen abgeben, dass so etwas nicht wieder passieren kann. In jedem Arbeitsbereich ist so eine Fehlermöglichkeit gegeben. Polizeivollzugsdienst ist ein komplexer Beruf. Man hat jeden Tag mit den unangenehmsten Teilen der Gesellschaft zu tun. Die Polizei muss auf Erfahrungswerte zurückgreifen. Sonst ist diese Arbeit nicht zu bewältigen. Die Ausbildung trägt dazu bei, dass heute eine andere Sichtweise auf bestimmte Gegebenheiten vermittelt wird. Dieses Ziel verfolge ich auch in meiner Lehre: Die Studierenden müssen die Gesellschaft, in der sie später Polizeidienst tun werden, besser kennen, damit sie die Schubladen, in die man Menschen auch außerhalb der Polizei gern hineinschiebt, geschlossen halten und sich ihr Erfahrungshorizont öffnet. Ich bin guten Mutes, dass man das mit der Mehrheit erreicht und in Zukunft eine größere Offenheit in der Polizei besteht, gerade was solche Ermittlungsansätze betrifft.
Sind die Verfehlungen und Pannen der Behörden im Fall NSU Thema in der Ausbildung? Diskutieren sie mit Ihren Studierenden darüber, wie es sein kann, dass die Polizei die Opfer der NSU-Terroristen selbst beschuldigt hat?
Der NSU ist selbstverständlich Thema bei der Ausbildung. Nur eines darf man bei der Debatte nicht vergessen: Die Polizei gibt sich die Regeln nicht selber. Sie setzt auch ihre Führung nicht selbst ein. Das tun Minister und Staatssekretäre, die dafür verantwortlich sind. Die Polizei wird immer das tun, was politisch entschieden wird und was Gesetz ist. Wenn das Gesetz besagt, dass bei Straftaten gegen Migranten immer auch nach rassistischen und fremdenfeindlichen Motiven ermittelt werden muss, dann wird die Polizei das tun. Bei den Ermittlungen gegen das NSU-Trio gab es solche Ansätze, nur sind sie nicht weiter verfolgt worden. Der bayerische Innenminister Beckstein hat wie wir heute wissen auf mehrere Vermerke geschrieben, dass auch in Richtung Rechtsextremismus ermittelt werden sollte. Ich gehe ganz stark davon aus, dass das auch getan wurde.
Gibt es also in der Polizei keinen strukturellen oder institutionellen Rassismus?
Ich bin nicht der Meinung, dass es tatsächlich einen organisierten oder institutionalisierten Rassismus in der Polizei gibt. Das sehe ich in Nordrhein-Westfalen nicht. Ich sehe allerdings, dass in Teilen der Polizei, aber auch den Behörden insgesamt ein eklatantes Nicht-Wissen über Teile der Gesellschaft besteht, die man immer als Rand betrachtet. Ist jemand, der einen türkischen oder anderen schwer aussprechbaren Namen hat, Teil der deutschen Gesellschaft? Genau solche Fragen behandeln wir in unseren Kursen. Und wir konstatieren: Ja, genau das ist unsere Gesellschaft.
Neben der interkulturellen Kompetenz wird vielfach die interkulturelle Öffnung der Polizei gefordert. Es sollen also mehr Menschen mit so genanntem Migrationshintergrund für den Polizeidienst gewonnen werden. Für wie wichtig halten sie das?
Das halte ich für sehr wichtig. Ich bin allerdings nicht der Meinung, dass eine Institution dadurch immunisiert wird vor Rassismus. Auch Migranten können Rassisten sein. Insofern reicht es nicht, zu sagen: Wir haben jetzt zehn oder 20 Prozent Migranten, nun ist alles gut. Gleichwohl finde ich es sehr wichtig, dass die Gesellschaft, in der die Polizei tätig wird, sich auf eine gewisse Weise in ihr selbst abbildet. Das Land NRW bemüht sich sehr stark darum.
Prof. Dr. Thomas Grumke lehrt seit 2012 an der Fachhochschule für öffentliche Verwaltung des Landes Nordrhein-Westfalen im Fachbereich Polizeivollzugsdienst. In NRW müssen alle zukünftigen Polizeibeamten die Fachhochschule besuchen und ein dreijähriges Bachelor-Studium absolvieren. Grumke forscht seit vielen Jahren zum Thema Rechtsextremismus und war bis 2012 wissenschaftlicher Referent beim NRW-Verfassungsschutz.
Interview: Kemal Hür
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