2008 beschloss der Deutsche Bundestag, ein "unabhängiger Expertenkreis Antisemitismus" müsse eingerichtet werden, um zu analysieren, wie judenfeindlich die Gesellschaft ist und was dagegen getan werden kann. Unter dem Titel "Antisemitismus in Deutschland" hat der Kreis aus zehn Experten 2011 einen Bericht vorgelegt. Ein Fazit: Rund 20 Prozent der Bevölkerung sind latent antisemitisch eingestellt. Eine Handlungsempfehlung: Die Präventionsmaßnahmen müssen gestärkt und verbessert werden.Über die Umsetzung konkreter Maßnahmen, die im Bericht vorgeschlagen wurden, gab es anschließend keine Debatte, auch ein Fortschrittsbericht war nicht vorgesehen. Stattdessen wurde 2015 ein neuer Expertenkreis einberufen, der nach seiner konstituierenden Sitzung am 25. und 26. Februar zum ersten Mal tagte. Die Zusammensetzung des Expertenkreises, die erst beim Auftakt bekannt wurde, sorgte für Kritik und Verwunderung: Sechs Wissenschaftler und zwei Vertreter zivilgesellschaftlicher Organisationen – darunter kein Jude. „Niemand käme auf den Gedanken, eine Konferenz zum Islamhass ohne muslimische Vertreter oder einen Runden Tisch zur Diskriminierung von Frauen ohne Frauen anzusetzen“, kritisierte unter anderem die Vorsitzende der Amadeu Antonio Stiftung (AAS), Anetta Kahane, in einer gemeinsamen Pressemitteilung mit drei anderen: Julius H. Schoeps, Gründungsdirektor des Moses Mendelssohn Zentrums für europäisch-jüdische Studien in Potsdam (MMZ), Stephan J. Kramer und Deidre Berger vom American Jewish Committee (AJC). Schoeps spricht in der Erklärung gar von einem "einzigartigen Skandal". Deswegen überlegen die vier Kritiker, ob sie eine alternative Kommission gründen. An diesem Mittwoch wollen sie darüber beraten.Die Kritik an der Besetzung hat nicht viel Aufsehen erregt. Die Tageszeitung hat berichtet, dass Grünen-Politiker Volker Beck die Kritik teilt. Die Frankfurter Rundschau meldete, das Bundesinnenministerium hätte ein Versäumnis eingeräumt, die Zeitung neues deutschland schrieb von einem drohenden "Desaster". Im Ausland schrieb die Washington Post über den Eklat. Kurz vor dem zweiten Zusammentreffen veröffentlichten die "Bildungsstätte Anne Frank" und das Zentrum für Antisemitismusforschung (ZfA) einen Offenen Brief an alle Fraktionsvorsitzenden im Bundestag, in dem sie forderten, "diese problematische Konstellation aufzulösen und die entsprechenden Konsequenzen zu ziehen". Doch alles in allem: Eine breite Debatte blieb aus.Dabei tut sich für die Kritiker eine größere Frage auf als allein die der Zusammensetzung eines Expertenrats. Naika Foroutan, stellverteretende Direktorin des Berliner Instituts für Integrations- und Migrationsforschung (BIM), erklärt: "Dass man nicht mehr über Minderheiten spricht, sondern mit ihnen, ist ein Leitmotiv, das sich auf dem Weg in eine Einwanderungsgesellschaft zunehmend durchgesetzt hat."Die Besetzung des Expertenkreises zu Antisemitismus deutet darauf hin, dass dies auf mehreren Ebenen der Bundespolitik noch nicht der Fall ist: Einberufen wurde das Gremium vom federführenden Bundesministerium des Inneren (BMI). Die Besetzung sei jedoch "gemeinsam und eng" mit allen im Deutschen Bundestag vertretenen Fraktionen abgestimmt, wie es im zweiten Parlamentsbeschluss dazu gefordert wurde, erklärt ein Sprecher des Bundesinnenministeriums gegenüber dem MEDIENDIENST.
Kritik an Bundesgremium
Einseitiger Blick: Antisemitismus-Expertenkreis ohne Juden
Antisemitismus stärker bekämpfen: Bundestagsvizepräsident Wolfgang Thierse stellt 2012 den ersten Bericht vor. Foto: dpa