Die Protestzentrale am Kottbusser Tor ist längst winterfest. Hatice sitzt neben dem brummenden Ofen im kleinen Häuschen, das sie auf Türkisch "Gecekondu" nennen, "über Nacht erbautes Haus". Das Gecekondu steht seit Mai 2012, es ist Treffpunkt und Symbol für den Protest der Mietergemeinschaft "Kotti und Co" im Herzen von Berlin-Kreuzberg, die sich gegen Mieterhöhungen im sozialen Wohnungsbau wehrt. Ein großer Teil der Mieter bekommt Transferleistungen oder muss ihr niedriges Einkommen aufstocken. "Dieser Kiez ist mein Zuhause, ich möchte hier nicht wegziehen“, sagt Hatice, die Ende 50 ist und fast jeden Tag eine dreistündige Schicht in der Protesthütte übernimmt.
Wohnungssuchende mit Migrationshintergrund haben in Deutschland oft Schwierigkeiten, eine Bleibe zu finden. Vor allem dort, wo Wohnraum knapp wird und sich früher unattraktive Quartiere wie der Kiez rund ums Kottbusser Tor nach und nach in angesagte Viertel verwandeln. Dabei haben vor allem Einwanderer und ihre Kinder dieses Viertel geprägt – die erste Gastarbeitergeneration fand hier Unterkünfte, in denen sonst niemand leben wollte. Heute droht ihnen die Vertreibung – und die Segregation ist Teil des Systems.
Nach welchen Kriterien läuft die Auswahl in Wohnungsunternehmen eigentlich ab? Mit dieser bislang kaum erforschten Frage hat sich Stadtsoziologin Christine Barwick beschäftigt, vor allem dort, wo soziale Aspekte eine starke Rolle spielen sollten. In ihrer Studie „Draußen vor der Tür. Exklusion auf dem Berliner Wohnungsmarkt“ hat sie 2011 untersucht, wie drei städtische Wohnungsbaugesellschaften in Berlin Mieter und Wohnungen zusammenbringen. Die Gesellschaften sind vor allem für die Vergabe von Sozialwohnungen zuständig.
Barwick hat mit sieben Angestellten Leitfaden-Interviews geführt und anschließend zwei Tage lang die Arbeit von Angestellten zweiter Gesellschaften beobachtet. Die Autorin sieht die Wohnungsbaugesellschaften als Torwächter des Wohnungsmarktes, die „in letzter Konsequenz die sozial-räumliche Struktur der Stadt mitprägen“ und „so auch soziale Ungerechtigkeit mit beeinflussen können“.
Frau mit Kopftuch? „Ungern.“
Sie kommt zu dem Ergebnis, dass die Interessenten bei der Vergabe von Mietraum in die Kategorien "Migrant" und "Einheimischer" eingeteilt werden – und die Interessen der deutschen Mieter der Maßstab dafür sind, wer neu einziehen darf. So gaben die Mitarbeiter etwa an, dass sie in gut nachgefragten Gegenden wie Kreuzberg oder der Spandauer Altstadt keine weiteren Familien mit Migrationshintergrund in ein Gebäude einziehen lassen. Ein Mitarbeiter einer Wohnungsbaugesellschaft in Wedding wird mit den Worten zitiert: „Da würde ich zum Beispiel eine Dame mit Kopftuch ungern reinsetzen.“
Barwicks Beobachtungen in den Büros haben gezeigt, dass Wohnungssuchende ohne Migrationshintergrund den türkischen, arabischen oder afrikanischen oft vorgezogen werden. Hinzu kommt, dass sie häufig Besserverdienende bevorzugen und sich an keine Mietobergrenze halten müssen. Wer sich die steigenden Kosten nicht leisten kann, muss gehen – oder darf gar nicht erst einziehen. Insgesamt kommt die Studie zu dem Ergebnis, dass bei der Wohnungsvergabe im sozialen Wohnungsbau in Berlin vor allem Hartz-IV-Empfänger und Migranten benachteiligt werden. Besonders schlechte Karten hätten dabei Migranten gehabt, die zugleich Hartz-IV bekommen.
Barwick beschreibt, dass dies nicht allein auf die Mitarbeiter zurückzuführen ist, sondern auch auf die Rahmenbedingungen durch die städtische Politik und das hohe Arbeitspensum in den Wohnungsbaugesellschaften – das zu einer schnellen Kategorisierung führt. „In letzter Konsequenz droht dies Hartz-IV-Empfänger und Migranten immer weiter in die Großbausiedlungen in den Randbezirken zu drängen“, schreibt die Autorin. Diese Tendenz hält die Soziologin für problematisch. Es fördere letztendlich die vielfach kritisierte „ethnische Segregation“ und soziale Ungleichheit.
In ihrer Studie kritisiert sie außerdem die stadtpolitischen Rahmenbedingungen für die Raumvergabe im sozialen Wohnungsbau. Zum einen liege die Obergrenze, die das Jobcenter übernimmt, in Berlin unter dem Preisniveau der meisten Sozialwohnungen. Zum anderen benötigten die Berliner Interessenten seit 2002 in vielen Siedlungen und Bezirken keinen Wohnberechtigungsschein mehr – weshalb jeder Interessent unabhängig von seinem Einkommen eine Wohnung des sozialen Wohnungsbaus mieten könne.
Kotti und Co verbucht einen „Teilerfolg“
Die Aktivisten von Kotti und Co werden auch 2013 weiter für bezahlbare Mieten in ihrem Kiez demonstrieren – und gegen die Vertreibung von ärmeren Mietern. Dass der Berliner Senat Ende 2012 angekündigt hat, für die 16 „problematischen Großsiedlungen des sozialen Wohnungsbaus“ in den nächsten fünf Jahren eine Mietobergrenze von 5,50 beziehungsweise 5,70 Euro zu finanzieren, werten sie als „Teilerfolg“. Doch die Initiative fordert langfristig eine Mietsenkung auf 4 Euro Nettokaltmiete pro Quadratmeter, um Verdrängung wirklich zu verhindern. Das sieht auch Hatice so. Sie ist sich sicher, dass sie im Gecekondu noch viele Schichten besetzen wird. Schließlich kämpft sie um ihr Zuhause.
Von Rita Nikolow, 11. Januar 2013
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