Die Zahl der Flüchtlinge, die neu nach Deutschland kommen, ist in den letzten Monaten stark zurückgegangen. Not-Unterkünfte und Erstaufnahme-Einrichtungen stehen vielerorts leer. Gleichzeitig steigt die Zahl der anerkannten Flüchtlinge, die eine langfristige Unterbringung brauchen. Sie haben jedoch nur sehr geringe Chancen, eine günstige Wohnung zu finden – vor allem in den Großstädten.
Anerkannte Flüchtlinge stoßen hier zu Geringverdienern, die sich wegen steigender Mieten eine Wohnung in der Innenstadt nicht mehr leisten können. Flüchtlinge würden also in vielen deutschen Städten die Wohnungsnot verschärfen, hieß es wiederholt in den Medien.
Der MEDIENDIENST hat in einem INFORMATIONSPAPIER Hintergründe und aktuelle Entwicklungen auf dem Wohnungsmarkt analysiert. Aus dem Papier geht hervor:
- Die Wohnraumkrise in den Städten hat eine lange Vorgeschichte. Sie ist nicht das Ergebnis der Flüchtlingsmigration.
- Die Baumaßnahmen, die viele Städte eingeleitet haben, um Wohnraum für Flüchtlinge zu schaffen, bringen zum ersten Mal in zwei Jahrzehnten Bewegung in den Wohnungsbau-Sektor – vor allem im preisgünstigen Segment.
Anstatt die soziale Lage in Großstädten zusätzlich anzuspannen, könnte die Flüchtlingsmigration deshalb sogar dazu beitragen, dass mehr günstiger Wohnraum entsteht.
Wohnraummangel: Ein jahrzehntealtes Problem
Experten bemängeln bereits seit Jahren, dass die Wohnraummangel-Frage von der Politik nur als Randthema behandelt wurde. Noch im Juni dieses Jahres konnte sich die große Koalition nicht auf einen Gesetzesentwurf „zur steuerlichen Förderung des Mietwohnungsneubaus“ einigen.
Bund, Länder und Kommunen hätten das Problem jahrzehntelang ignoriert, sagt der Stadtsoziologe Andrej Holm von der Humboldt-Universität in Berlin. „Dass es an Wohnraum mangelt, ist längst bekannt“, so Holm. „Man nehme das Beispiel Berlin: Schon seit dem Jahr 2000 übersteigt die Zahl der Haushalte die Menge der fertiggestellten Wohnungen deutlich. Seitdem hat sich die Lage weiter verschlechtert: 2014 gab es in Berlin 1,96 Millionen Haushalte und nur 1,89 Millionen Wohnungen.“ Der Mangel ist besonders stark im billigen Mietsegment zu spüren, denn je weniger Wohnungen es gibt, desto höher fallen die Mieten aus.
Zu wenige soziale Wohnungen
In der Vergangenheit konnten viele Geringverdiener in staatlich geförderte Wohnungen ziehen, sagt Matthias Günther, Vorstand vom Eduard Pestel Institut in Hannover. Seit den 90er Jahren haben Bund und Länder jedoch ihre Förderprogramme stark zurückgefahren. Das Ergebnis: 1987 gab es in Deutschland rund vier Millionen Sozialwohnungen. Heute sind es nur noch 1,4 Millionen.
„Viele ehemalige Sozialwohnungen wurden an Privatinvestoren verkauft. Andere sind aus der Bindung gefallen, weil die Sozialauflagen zeitlich befristet sind“, erklärt Günther. Etwa 10.000 neue Sozialwohnungen werden jährlich gebaut. Bei 60.000 bis 80.000 entfielen im gleichen Zeitraum die sozialen Auflagen. Nach Berechnungen des Pestel Instituts fehlen derzeit in Deutschland etwa vier Millionen Wohnungen für einkommensschwache Familien. „Die Auswirkung der Flüchtlingsmigration auf diese – bereits katastrophalen – Umstände ist deshalb eher nachrangig“, sagt Günther.
Könnte die Flüchtlingsmigration wie ein Konjunktur-Paket wirken?
Doch der Anstieg der Flüchtlingszahlen im Sommer 2015 war für die Bundesregierung Anlass, das Thema Sozialwohnungsbau wieder auf die Tagesordnung zu bringen. Schon im September, als die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit eher auf Notunterkünfte gerichtet war, beschloss sie, die Ausgaben für den sozialen Wohnungsbau zu verdoppeln.
Auch in mehreren Bundesländern wurden zum ersten Mal seit fast zwei Jahrzehnten die Förderungen wieder deutlich angehoben. Wurden bislang mit den sogenannten Kompensationmitteln des Bundes zwischen 10.000 und 15.000 Sozialwohnungen im Jahr gebaut, soll diese Zahl nach Angaben des Bundesbauministeriums in den kommenden Jahren auf mindestens 30.000 steigen.
„In der Tat hat die sogenannte Flüchtlingskrise zum ersten Mal in fast zwanzig Jahren dafür gesorgt, dass erhebliche finanzielle Mittel in den Bau von sozialen Wohnungen fließen“, sagt der Stadtsoziologe Holm. Den Immobilienfirmen wurden zudem von Ländern und Kommunen klare Vorgaben gemacht: Wer bauen will, muss ein Teil der Wohneinheiten für Sozialwohnungen bereitstellen.
Wie sich das auf den Immobilienmarkt auswirken wird, ist jedoch nicht klar, sagt Holm: „Wenn Geringverdiener mit Anspruch auf Wohngeld in geförderte Wohnungen ziehen, werden möglicherweise viele Wohnungen im billigen Mietsegment frei. Dadurch könnten die Mieten sinken. Andererseits kann es sein, dass Immobilienfirmen die sinkenden Erträge im geförderten Wohnungsbau durch eine Anhebung der Mieten im mittleren Segment kompensieren.“
Für Sozialwohnungsbau-Experte Matthias Günther sind die aktuellen Förderprogramme ein Tropfen auf dem heißen Stein: „Es stimmt, dass es derzeit mehr Geld für den Bau von Sozialwohnungen gibt. Auch die Zahl der Baugenehmigungen ist gestiegen. Wenn wir aber die Lage in den Griff bekommen wollen, müssen Bund und Länder deutlich mehr investieren: Wir brauchen 400.000 neue Wohnungen im Jahr und Förderprogramme für den sozialen Wohnungsbau und bezahlbares Wohnen mit einem Bruttovolumen von neun bis zehn Milliarden Euro im Jahr.“
Von Fabio Ghelli, Jennifer Pross und Sandra Sperling
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