MEDIENDIENST: Deutschland war von 1884 bis 1915 Kolonialmacht. In der öffentlichen Debatte ist das Thema aber kaum präsent. Warum wissen wir so wenig über die deutsche Kolonialgeschichte?
Prof. Dr. Christian Geulen: Das liegt zum Einen daran, dass die deutsche Kolonialherrschaft verglichen zu anderen Staaten relativ kurz andauerte: 30 Jahre. Zum Anderen hat die Erinnerung an Nationalsozialismus und Holocaust die Sicht auf die frühere Phase der Kolonialzeit verdeckt. In der Geschichtsschreibung wurde sie lange nur als Vorgeschichte des Dritten Reiches betrachtet. Dabei hängt die Kolonialzeit genauso – wenn in mancher Hinsicht nicht sogar unmittelbarer – mit unserer Gegenwart zusammen wie das Dritte Reich.
Wie meinen Sie das?
Die globalisierte Welt, wie wir sie heute kennen, ist in der Kolonialzeit und im Imperialismus entstanden. Die Kolonialmächte standen dabei vor einem ähnlichen Konflikt wie Nationalstaaten heute: Einerseits wollten sie ihr Einflussgebiet über nationale Grenzen hinaus erweitern, andererseits die Idee eines „homogenen“ Nationalstaats aufrechterhalten. Die Rassenkategorie und die mit ihr einhergehende Gewalt gegenüber bestimmten Bevölkerungsgruppen waren damals eine Art „Lösung“ dieses Konflikts: Homogenisierung des Eigenen trotz globaler Expansion. Wenn ich aktuelle Entwicklungen wie die „Pegida“-Demonstrationen oder rechtspopulistische Parteien beobachte, habe ich den Eindruck, dass manche Argumentationen heute – wenn auch ohne den Begriff der „Rasse“ – in eine ähnliche Richtung gehen: Die Rückkehr zu kulturellen Reinheitsvorstellungen im Zeitalter der Globalisierung. Es wäre aber fatal, wenn wir diesen Fehler der Vergangenheit wiederholen würden. Das ist etwas, was wir aus der Geschichte des Kolonialismus lernen können.
Prof. Dr. CHRISTIAN GEULEN lehrt Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Koblenz-Landau. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören Rassismus, Nationalismus und die deutsche Kolonialgeschichte.
Von 1904 bis 1908 haben deutsche Truppen im heutigen Namibia mehrere zehntausend Angehörige der Herero und Nama umgebracht. Bis heute hat die Bundesregierung das Verbrechen nicht offiziell als Völkermord anerkannt. Jetzt hat Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU) erstmals von einem Genozid gesprochen. Warum tut sich die deutsche Politik so schwer mit der Aufarbeitung?
Ich vermute, dass einige Politiker befürchten, mit der Anerkennung des Völkermords in Namibia den Holocaust zu relativieren. Es könnte auch am größeren zeitlichen Abstand zur Kolonialzeit liegen. Sich als Bundesregierung offiziell für den Völkermord in Namibia verantwortlich zu zeigen, würde eine Kontinuität herstellen, die die deutsche Geschichte so nicht hat. Vom Kaiserreich zur Demokratie, von der Demokratie zur Diktatur, vom geteilten zum wiedervereinigten Deutschland: Die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert hat viele Brüche. Sie nur bis zum Nationalsozialismus zu denken, fällt daher leichter. Ich persönlich halte das für problematisch, weil zum Verständnis unserer Gegenwart unbedingt auch die Geschichte des Kolonialismus gehört. Ich denke aber auch, dass eine solche Anerkennung früher oder später stattfinden wird. Die Äußerungen Norbert Lammerts sind ein Anzeichen dafür.
Hinweis: Einen Tag nach dem Interview, am 10. Juli, verkündete das Auswärtige Amt, das Massaker von nun an wie folgt zu bezeichnen: "Der Vernichtungskrieg in Namibia von 1904 bis 1908 war ein Kriegsverbrechen und Völkermord."
Was kann Deutschland in Sachen Erinnerungskultur von anderen ehemaligen Kolonialstaaten lernen?
Ein wichtiger Punkt ist die schulische Bildung. Wenn ich Studierende im ersten Semester frage, was sie über die deutsche Kolonialgeschichte wissen, schauen viele erst mal verwirrt. England ist da zum Beispiel viel weiter. Das liegt sicherlich auch daran, dass es eine längere Kolonialgeschichte hat und Menschen aus den ehemaligen Kolonien in der Gesellschaft viel präsenter sind. In Deutschland gibt es keine große namibische Community. Das ändert aber nichts daran, dass die deutsche Geschichte und Gegenwart in einem postkolonialen Zusammenhang stehen. Imperialismus und Kolonialismus sind Phänomene, deren Nachwirkungen uns alle betreffen. Das muss sich auch in den Lehrplänen wiederfinden. Die aktuelle Tendenz an deutschen Schulen, das Fach Geschichte immer weiter zu reduzieren und in eine allgemeine Gesellschaftskunde zu überführen, halte ich auch in diesem Zusammenhang für problematisch.
In wissenschaftlichen Debatten zur Kolonialgeschichte ist immer wieder vom sogenannten Postkolonialismus die Rede. Was genau ist damit gemeint?
Die Theorie des Postkolonialismus geht davon aus, dass die Kolonialzeit mit der Unabhängigkeit der Kolonien nicht vorbei war, sondern bis heute fortwirkt – sowohl in den ehemaligen Kolonien als auch in den alten Kolonialstaaten. Internationale Migration und die innere Vielfalt spätmoderner Gesellschaften hängen unmittelbar mit dem Kolonialismus zusammen und sind nur zwei Beispiele dieses Fortwirkens. In der deutschen Politik wird diese Perspektive bislang kaum berücksichtigt. Wenn Deutschland ein Teil Europas sein will, dann muss es sich aber auch mit diesem Aspekt der europäischen Vergangenheit auseinandersetzen.
Was muss passieren, um die postkoloniale Perspektive in öffentliche Debatten einzubringen?
Die öffentliche Erinnerung entfernt sich derzeit leider immer weiter von dem, was in der Wissenschaft passiert. Es gibt unzählige Geschichts-Dokumentationen, auch zum Kolonialismus, im Fernsehen und in populären Magazinen. Die zeichnen aber häufig ein einseitiges, exotisierendes und stereotypes Bild, das kaum noch an die Forschung rückgebunden ist. Ich denke, dass wir als Historiker hier gefragt sind, unsere Forschung nicht nur auf Tagungen zu diskutieren, sondern auch in öffentliche Debatten einzubringen. Wir müssen eigene Formate finden, um auf die deutsche Kolonialgeschichte und ihre Folgen aufmerksam zu machen. Vielleicht auch im stärkeren Austausch mit den Medien.
Interview: Jennifer Pross
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