Am 25. Mai wurde der 46-jährige Afroamerikaner George Floyd von einem weißen Polizisten öffentlich hingerichtet. Die Welt konnte zuschauen. Mit Hinrichtung behaupte ich kein juristisches Urteil. Wie immer ein Urteil ausfällt, es wird nicht das richten, was alles geschehen ist und die Tat möglich machte. Zwei weitere Beamte haben George Floyd fixiert. Es gab Schaulustige. Bystander, wie wir sie aus vielen Fällen öffentlicher Gewalt, aber auch alltäglichen Formen von subtilem und stillem Rassismus kennen. Die meisten Umstehenden griffen nicht ein, sondern schauten zu, einige machten Handyvideos. Manche taten das aus Angst vor der aufgerüsteten Polizei, andere vielleicht aus niederen Motiven. Wieder andere aber wollten eingreifen und wurden von einem vierten Beamten daran gehindert. Selbst als Rettungssanitäter versuchten George Floyd wiederzubeleben, ließ der Polizeibeamte das Knie an seinem Hals. Es war eine öffentliche Hinrichtung durch einen Polizisten; eine Hinrichtung von acht Minuten und 46 Sekunden. Als wäre dies nicht genug der Gewalt. Zu all dem kommen Vertreter des Staates dazu, die Gewalt legitimieren.
Erst die bestialische öffentliche Hinrichtung macht viele Menschen aufmerksam auf die vielen anderen Fälle rassistischer Gewalt. Sie lässt für Momente die Ahnung zu, dass unter all den Hellfeldzahlen der polizeilichen Statistiken ein riesiges Dunkelfeld an Übergriffen, Beleidigungen, Diskriminierungen, Hass, Aggression und Gewalt steckt. Das mag erklären, warum die weltweite Bewegung gegen den Rassismus sich schnell auf "Black Lives Matter" einigen konnte. Rassistische und menschenfeindliche Hasstaten sind in vielen Ländern der Welt Alltag.
Folgen für die Opfer geraten oft aus dem Blick
Wir reden vom Alltagsrassismus, der mehr ist als ein einfacher Fachbegriff. Er ist Schmerz, Gefühle von Demütigung und Minderwertigkeit, die Missachtung von Menschlichkeit, Identitäten und Zugehörigkeiten. Wir wissen aus der Forschung eigentlich recht gut um die Folgen von rassistischen und menschenfeindlichen Hasstaten für die Opfer. Sie geraten aber oft aus dem Blick. Der menschenfeindliche Hass und die Gewalt führt bei den Opfern und jenen, die Ihnen nahestehen, zu Angst, Nervosität, Depressionen, Stress, sich aufdrängende Gedanken an den Hass, Konzentrationsschwierigkeiten, Ärger und beißenden Gefühlen von Rache, Zukunftsängsten, Misstrauen, Gefühlen der Verletzlichkeit, Problemen 'normale' Beziehungen zu anderen aufzubauen und vieles andere mehr. Hasstaten folgen Traumatisierungen und Leiden, die angesichts fehlender Möglichkeiten selten aufbereitet und verarbeitet werden.
Viele, vor allem junge Menschen, demonstrieren zusammen, um Zusammenhalt zu signalisieren und Mitgefühl für die Opfer, den Verstorbenen, der Familie, jene, mit denen George Floyd gelebt hat. Die weltweiten Demonstrationen ebenso wie die aggressiven Versuche vor allem in den USA, staatliche Kontrolle mit der Gewalt herzustellen, kennzeichnen die Trauerphase, die mit Wut und dem unbändigen Bedürfnis nach Gerechtigkeit verbunden sind. Der Tod eines Menschen, verweist auch uns, die fern sind und woanders leben, auf uns selbst. Es ist, als wenn wir vor einem riesigen Spiegel stehen würden.
Was wissen wir über Hasstaten und deren Folgen in Deutschland?
Vieles über Hasstaten ist gut erforscht und damit nachweisbar, also eigentlich nicht zu ignorieren. Es gibt Fakten, die die Wucht des Hasses vor der Tür dokumentieren. Dazu gehört die Mordserie des NSU, die trotz juristischer Behandlung immer noch nicht in Gänze aufgearbeitet wie verstanden ist. Dazu gehören die jüngsten Attentate, wie die Hinrichtung des Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke (CDU) am 2. Juni 2019, der antisemitische Anschlag am 9. Oktober 2019 in Halle (Saale), und das Attentat von Hanau am 19. Februar 2020. Die Manifeste der Täter sprechen eine eindeutige Text- wie Bildsprache, und es ist keine andere Sprache als jene der Rassisten in den USA. Dazu gehören 208 Todesopfer rechter Gewalt seit 1990, die Mut-gegen-rechte-Gewalt und der Opferfond Cura recherchiert haben. Zu dem Bild gehören zigtausende von Hasstaten, die Verfassungsschutz und Polizei für das Hellfeld feststellen. Dazu gehören Politiken und Mechanismen einer teilweisen vorurteilsbasierten und rassistischen Sicherheitspolitik, inklusive des gerade oft adressierten Racial Profiling. Und dazu gehören der jüngst veröffentlichte Jahresbericht der Antidiskriminierungsstelle des Bundes, der einen deutlichen Anstieg der rassistischen Diskriminierung ausweist.
Prof. Dr. ANDREAS ZICK ist Konflikt- und Gewaltforscher. Seit April 2013 leitet er das Institut für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung (IKG) der Universität Bielefeld, das unter anderem eine Langzeitstudie zur gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit durchführte. (Foto: dpa)
Zu dem Bild gehören ebenso verachtende Stereotype und Vorurteile. In der Mitte-Studie haben wir Ende 2018 in einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage unterschiedliche Facetten von Vorurteilen in Deutschland erfasst. Der offenen Form einer rassistischen Äußerung wie "Die Weißen sind zurecht führend in der Welt" stimmten 9,7 Prozent der Befragten zu. 8,6 Prozent stimmten der Aussage "teils/teils" zu. Fast jeder zehnte Befragte aus der Mitte der Gesellschaft stimmt einem traditionellen Rassismus zu. Der von uns nur verkürzt gemessene Rassismus ist in der Mitte über die letzten Jahre relativ stabil, in Ost- (9,4 Prozent Zustimmung) wie Westdeutschland (8,9 Prozent) fast gleichauf, unter Männern (10,5 Prozent) wie Frauen (9,2 Prozent) ähnlich hoch ausgeprägt, auch Jüngere (16-30 Jahre, 11 Prozent) unterscheiden sich kaum von Älteren (über 60 Jahre alt, 12,2 Prozent). Wohl aber hängt Rassismus zusammen mit der Zustimmung zu antidemokratischen Orientierungen, wie rechtspopulistischen, neurechten, rechtsextremen Überzeugungen, einem Verschwörungsglauben sowie einer Verachtung demokratischer Grundprinzipien. Rund dreiviertel aller Befragten gaben in der Studie an, sie machten sich "Sorgen, dass der Rassismus in der Gesellschaft zunimmt".
Aktuelle Erhebungen weisen sämtlich darauf hin, dass Menschen systematisch wegen ihrer zugeschriebenen oder dokumentierten Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe ungleichbehandelt werden. Die Gesellschaft reproduziert die systematische Ungleichheit durch Einstellungen und damit verbundenen Verhaltensmustern. Rassismus ist nicht nur eine Ideologie oder Einstellung. Er stellt Überzeugungssysteme her, die Handlungen wie die Hasstaten wahrscheinlich machen.
Wie kann es weitergehen?
Im Mai 2020 hat die Bundesregierung einen Kabinettsausschuss zur Bekämpfung von Rechtsextremismus und Rassismus gegründet. Das ist gut und richtig. Die Erwartungen sind hoch, aber vielleicht zu hoch. Es bedarf einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung, die Rufe nach einem starken Staat verdecken die eigentlichen Potenziale einer demokratischen Gesellschaft. Es gibt schon einen Nationalen Aktionsplan Rassismus der Bundesregierung, der im Jahr 2018 veröffentlicht wurde und vielleicht weiter zu prüfen ist. Es gibt bessere und schlechtere Daten über die Herausforderungen durch Rassismus und Hasstaten. Es gibt aber keinen nationalen Hate-Crime- und Hate-Bias-Bericht, der es Forschung, Praxis und Öffentlichkeit ermöglicht, faktennäher zu diskutieren, analysieren und zu handeln.
Es fehlt meines Erachtens an Wissen und Handlungsansätzen hinsichtlich der Analyse, Prävention wie Intervention, Beratung und Bildung. An erster Stelle muss der Opferschutz stehen. Solide, vertrauensvolle und leicht zugängliche Beratungsangebote und -stellen fehlen an vielen Orten.
Es ist zu überlegen, eine/n unabhängige/n Beauftragte/n im Bund, in den Ländern oder Kommunen einzurichten. Eine Stelle, die sich mit der Prävention, Koordination des Daten- und Wissensaustausches und der Entwicklung von Beratungsangeboten systematisch befassen kann. Die Stelle könnte mit anderen relevanten Stellen wie den Beauftragten gegen Antisemitismus eng zusammenarbeiten. Die Kooperation und kluge Koordination von Problemlagen und Wissen tut Not.
Es braucht eine – ich finde wissenschaftliche – Aufarbeitung und Analyse von Hasstaten, um systematisch deren Ursachen, Phänomene und Folgen analysieren zu können. Diese darf nicht allein in Behörden bleiben und aus Behörden kommen. Und wir brauchen Fallanalysen von Hasstaten, um die Prävention vor Ort zu ermöglichen.
Es braucht bessere Bildung, auf die das Land so hohen Wert legt. Ob Schülerinnen und Schüler oder Studierende Wissen und Handlungskompetenzen zur Rassismusprävention und Vorurteilsreduktion erlangen, hängt oft vom Zufall ab, davon ob Institutionen das Thema ernst nehmen. Es gibt zwar gute Ansätze, aber die sind nicht ausreichend für nachhaltige Lösungen aufgestellt.
Es gibt viele weitere Ideen, da bin ich sicher. Die Zeit jetzt mag eine Möglichkeit bieten, sich zu fragen, was wäre hier vor Ort zu tun. Nach dem Tod und der Beerdigung von George Floyd wird es nicht reichen, in Lippenbekenntnissen zu gleichwertigen Lebensverhältnissen zu verfallen. Auch sie sind, wie die Forschung zeigt, oft nur ein Teil des Rassismus. Es geht am Ende um ein Ende der Missachtungen.
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