Dieser Artikel wurde ursprünglich am 5. Juni 2024 (nach der Messerattacke in Mannheim) veröffentlicht.
Mediendienst Integration: Herr Yaldiz, in Mannheim hat ein 25-jähriger Mann mehrere Menschen mit einem Messer angegriffen und dabei einen Polizisten getötet. Nach aktuellem Ermittlungsstand war die Tat islamistisch motiviert. Der Täter war vorher nie straffällig geworden, den Behörden abseits des Asylverfahrens nicht bekannt. Hätten man ihn trotzdem auf dem Radar haben können?
Dr. Yunus Yaldiz: Man muss nicht notwendigerweise straffällig werden, um auf dem Radar der Sicherheitsbehörden oder der Prävention zu landen. Man kann auch durch andere Taten oder eine bestimmte Rhetorik auffallen. Hier sind Schule, Arbeitsplatz und das private Umfeld zentral. Die Familie, Kolleg*innen, Mitschüler*innen, Vorgesetzte und Lehrer*innen können bemerken, dass jemand sich extremistisch äußert oder Symbole zeigt.
Laut Medienberichten war der Täter arbeitslos, das heißt, er war weder in der Schule noch an einem Arbeitsplatz eingebunden, wo Leute etwas hätten bemerken können.
Das stimmt – und das ist Teil des Problems. Wenn Menschen in soziale Kontexte eingebunden sind, gibt es viel mehr Chancen, extremistische Tendenzen zu entdecken und ihnen entgegenzuwirken. Das ist die wichtigste und wirksamste Prävention überhaupt: Institutionen wie eben Schulen und Arbeitsorte, wo man mitbekommt, was bei anderen Leuten passiert.
Radikalisierung passiert allerdings oft im Internet.
Ja. Akteure aus dem extremistischen Islamismus sind im Internet sehr präsent – viel präsenter als Gruppen mit liberalen Einstellungen. Sie haben das Potenzial von Propaganda im Internet extrem gut verstanden, insbesondere salafistische Akteure sind sehr aktiv. Sie nutzen eine coole, jugendliche Sprache. Das kommt bei jungen Menschen gut an – gerade im Gegensatz zur pädagogischen Ansprache in Schulen. Trotzdem: Wenn sich jemand online radikalisiert, zeigt sich das ja früher oder später in Taten und Worten in der analogen Welt.
Dr. Yunus Yaldiz ist Islamwissenschaftler beim Präventionsnetzwerk UFUQ. Dort leitet er das Kompetenznetzwerk Islamistischer Extremismus. Er studierte und lebte unter anderem in mehreren Ländern des Nahen Ostens, der Türkei und Armenien und war 6 Jahre als Projektleiter der Brandenburger Fachstelle Islam im Land Brandenburg tätig.
Das heißt: Auch wenn die Radikalisierung vielleicht im Internet passiert, bleiben Schulen und Arbeitsplätze die zentralen Orte der Prävention?
Genau, und deshalb dürfen Schulen nicht überlastet sein. Es muss genug Lehrerinnen und Lehrer geben, damit sie problematische Tendenzen bei den Jugendlichen erkennen und mit ihnen ins Gespräch kommen können. Darauf müssen sie natürlich inhaltlich vorbereitet werden: Das Kollegium muss Fortbildungen erhalten, etwa zu den Themen Islam oder Nahostkonflikt. Auch am Arbeitsplatz oder in den Behörden muss Menschen mit Respekt entgegengetreten werden, damit sie durch Diskriminierung und Stigmatisierung nicht für Angebote von Islamisten empfänglich werden.
Warum radikalisieren sich Menschen hin zum extremistischen Islamismus? Wie läuft das ab?
Radikalisierung verläuft immer individuell. Es hat sehr viel mit der ganz konkreten Situation des Einzelnen zu tun. Übergreifend kann ich aber sagen: Meistens geht es um die Suche nach dem Sinn im eigenen Leben, um gefühlte Isolation und Einsamkeit und um fehlende Selbstwirksamkeit. Teils kommen Erfahrungen mit Rassismus und Stigmatisierung hinzu. Und dann ist die Frage: Wer fängt diese Gefühle auf? Wo fühlt sich die Person gesehen? Hier ist das Einfallstor für Radikalisierung. In extremistisch islamistischen Gruppen bekommen die Betroffenen zum Beispiel ein Schwarz-Weiß-Bild des Islams geboten, das vermeintlich klare Antworten auf schwierige Fragen hat und Orientierung bietet. Und es gibt Möglichkeiten zur Selbstüberhöhung, plötzlich ist man in dieser Gruppe wer, auch wenn das vielleicht nur ein Online-Forum ist.
Und wie kann man das verhindern?
Ich würde sagen, es gibt drei Stufen. Stufe 1 ist die Universalprävention: Das sind, wie ich schon erwähnte, dass Schule und Arbeitsmarkt gut ausgestattet und diskriminierungsfrei sein müssen, damit die Menschen in diesen Institutionen gut eingebettet sind. Wir von UFUQ sind Teil dieser Prävention, in dem wir Fortbildungen in Schulen und für das Kollegium geben.
Stufe 2 ist, wenn es schon einen konkreten Fall gibt, wenn also etwa ein Lehrer bei einer Schülerin extremistische Rhetorik wahrnimmt. In diesem Fall kann der Lehrer bei uns oder bei der Präventionsstelle des jeweiligen Bundeslands anrufen und sich in Bezug auf den konkreten Fall beraten lassen. Wir würden den Lehrer darauf vorbereiten, mit der Schülerin ins Gespräch zu kommen. Und zwar zu Themen, die der ganzen Sache zugrunde liegen – meist sind es die Themen Einsamkeit, Selbstfindung, fehlende Selbstwirksamkeit und Diskriminierung.
Stufe 3 ist, wenn jemand schon straffällig wird. An dieser Stelle greifen die Sicherheitsbehörden und deren zivilgesellschaftliche Partner ein. Dennoch ist es auch hier wichtig zu schauen, wie die Person so in den Alltag integriert werden kann, dass sie den Weg weg von der Radikalisierung findet, statt weiter hinein. Das nennt man dann Distanzierungs- oder Deradikalisierungsarbeit.
Ist die Prävention gegen extremistischen Islamismus in Deutschland gut aufgestellt?
Die Struktur ist in Deutschland an sich gut: Es gibt in jedem Bundesland Präventionsprojekte, die sich zum Teil seit 10 Jahren mit Islamismusprävention beschäftigen. Dazu gibt es eine bundesweite Struktur, die alle vernetzt, das Kompetenznetzwerk „Islamistischer Extremismus“ – auch wir von UFUQ sind Teil davon. Problematisch ist, dass es keine strukturelle Finanzierung gibt. Die Förderdauer beträgt immer nur ein bis vier Jahre. Dadurch verliert man gute Mitarbeiter mit viel Expertise und verbringt häufig Zeit mit Einarbeitungen. Außerdem muss man ständig um neue Förderungen kämpfen. Diese Schwäche sollte eigentlich mit dem Demokratiefördergesetz behoben werden – das ist aber bis heute nicht gekommen.
In Reaktion auf Mannheim forderten Politiker vor allem Abschiebungen, Streichungen von Sozialleistungen oder den Entzug von doppelten Staatsbürgerschaften.
Diese Forderungen halte ich für kontraproduktiv und weit entfernt von der Realität. Wenn es den Politiker*innen wirklich darum ginge, dass weniger solcher Taten wie in Mannheim geschehen, müssten sie Präventionsprojekte und Schulen gut ausstatten, sie müssten die strukturelle Finanzierung sichern, sie müssten gegen Rassismus auf dem Arbeitsmarkt vorgehen. Das wären Maßnahmen, die wirklich auf das Problem abzielen würden.
Und warum halten Sie den Ruf nach Abschiebung und Entzug der Staatsbürgerschaft für kontraproduktiv?
Erstens gibt es viele Menschen, die hier groß geworden sind und sich hier radikalisiert haben. Das sind Deutsche, die man nicht abschieben kann. Man muss sich damit beschäftigen, warum das hier passiert und was man hier dagegen tun kann. Zweitens, welches Signal will man damit denn senden: Wir sind sogar bereit, mit der Terrorgruppe Taliban zusammenzuarbeiten, die ja selber radikal-islamistisch ist, um möglicherweise ein paar Leute abschieben zu können? Drittens, und das finde ich eigentlich das Wichtigste: Diese politische Rhetorik ist grade mit Blick auf Radikalisierung fatal. Rufe nach Entzügen der Staatsbürgerschaft – oder auch Ausschlüsse durch Bekenntnis-Anforderungen – führen dazu, dass Menschen mit Migrationshintergrund und Muslime sich in Deutschland immer wieder in Frage gestellt sehen. Das bewirkt, dass sie sich vom Staat nicht repräsentiert fühlen. Und macht es wahrscheinlicher, dass sie von anderen – möglicherweise eben auch extremistischen Akteuren – angesprochen werden können und für deren Propaganda anfälliger werden.
Interview: Donata Hasselmann
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