REFERENT*INNEN
Dr. Franck Düvell, Universität Osnabrück, Autor der Studie "Die russische Bedrohung der Ukraine: Was könnte das für Vertreibung und Flucht bedeuten?"
Chris Melzer, UNHCR-Pressesprecher, derzeit an der polnisch-ukrainischen Grenze
Andrea Najvirtova, Direktorin der slowakischen Hilfsorganisation "People in Need"
Marta Kozłowska, Wissenschaftliche Mitarbeiterin beim Mercator Forum for Migration and Democracy (MIDEM)
STATEMENTS DER REFERENT*INNEN (AUSZÜGE)
Dr. Franck Düvell, Universität Osnabrück
Es könnte bis zu zwölf Millionen Flüchtlinge geben
"Wir haben 2014 im Konflikt um die Krim und den Donbass gesehen, dass über die Hälfte der Bevölkerung vertrieben wurde. Daraufhin haben wir die verschiedenen Szenarien des aktuellen Krieges analysiert. Wir haben geschaut, welche Provinzen betroffen sind und wie viele Menschen dort wohnen. Tatsächlich sieht es derzeit nach bis zu 24 Millionen Menschen aus, die vom Krieg betroffen sein werden. Wenn es so sein wird wie 2014, dass die Hälfte der betroffenen Bevölkerung flieht, wird es bis zu zwölf Millionen ukrainische Flüchtlinge geben."
"Es gibt aber auch viele Menschen, die in der Ukraine ausharren. Das hat unterschiedliche Gründe, zum Beispiel Landesverteidigung oder Stolz. Bei vielen sind außerdem ältere Verwandte der Grund: Eltern und Großeltern, die nicht mehr laufen können oder gerade eine Operation hatten. Sie wollen und können nicht weg."
Chris Melzer, UNHCR
Eine solche Fluchtbewegung gab es seit 1945 nicht
"Nach einer Woche des Krieges gibt es eine Millionen Flüchtlinge. Eine so große Fluchtbewegung in so kurzer Zeit haben wir so noch nicht gehabt seit 1945. Weder in der Balkan-Krise noch beim russischen Einmarsch in Ungarn 1956 oder bei der der Tigray-Operation in Äthiopien. Die Flüchtlinge sind fast ausschließlich Frauen und Kinder. Viele Frauen haben zwei Kinder auf dem Arm und nur eine kleine Tasche dabei. Die meisten sind körperlich in einem guten Zustand – aber nicht psychisch. Denn sie fliehen in dem Wissen, dass der Ehemann, der Vater, zurückgeblieben ist."
"Polen hat die Situation derzeit gut im Griff. Die Erstaufnahmeeinrichtungen – Schulen, Sporthallen – sind noch nicht voll. Die Organisation läuft dezentral, es gibt kein Zuordnungssystem, die Menschen agieren meist auf eigene Faust. Die größte ukrainische Diaspora lebt in Polen, daher haben viele ukrainische Flüchtlinge Verwandte oder Bekannte, bei denen sie unterkommen können."
Andrea Najvirtova, People in Need
Die Situation an der slowakischen Grenze hat sich beruhigt – vorerst
"Seit Kriegsausbruch sind 80.000 ukrainische Flüchtlinge in die Slowakei gekommen. Momentan kommen rund 12.000 Menschen pro Tag. Die Lage an der slowakischen Grenze hat sich zuletzt etwas beruhigt: Die Empfangsstellen sind besser organisiert, die Menschen bekommen Informationen, eine Unterkunft, psychosoziale Hilfe, und vor Ort gibt es beheizte Zelte, Wasserkocher, Decken, Toiletten und Nahrungsmittel."
"Wir vermuten, dass wir ein Abschwächen der ersten 'Flüchtlingswelle' sehen. Menschen aus der Westukraine, die fliehen wollten, haben das jetzt getan. Die Situation wird sich wieder verschlechtern, falls viele Menschen aus anderen Teilen der Ukraine kommen – oder wenn die russischen Aggressionen auch die Westukraine treffen. Dann ist wieder mit einer sehr großen Anzahl von Flüchtlingen zu rechnen."
Marta Kozłowska, MIDEM
Wie lange funktioniert eine privat organisierte Solidarität?
"In Polen gibt es eine enorme Solidarität mit ukrainischen Flüchtlingen. Eine neue Umfrage einer rechtskonservativen Zeitung zeigt, dass 93 Prozent der Menschen überzeugt ist, dass man den Ukrainern helfen solle. Nur 1 Prozent sagt, dass niemandem geholfen werden sollte. Dazu kommt, dass der Arbeitsmarkt in Polen sehr aufnahmefähig ist: Arbeitskräfte werden benötigt, außerdem ist die Sprachbarriere niedrig."
„Die Frage ist allerdings, wie lange die privat organisierte Solidarität funktioniert. Zum Beispiel Unterkunft: Bislang konnten die Flüchtlinge privat unterkommen, bei Verwandten, Bekannten oder Leuten, die einfach ihre freien Zimmer anbieten. Aber die Kapazitäten an freien Zimmern sind ja begrenzt. Die Frage stellt sich also: Welche Kapazitäten hat der Staat? In Polen gibt es keine richtige Struktur für die Flüchtlingsaufnahme, es gibt keine echte Integrationspolitik. Die polnische Regierung hat aber auf rechtlicher Ebene gut und schnell reagiert: Quarantäne-Befreiung für einreisende Ukrainer, automatische Verlängerung der Visa um drei Monate oder die Erlaubnis, mit Haustieren einreisen zu können"
Von Donata Hasselmann
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