MEDIENDIENST: Eltern mit Migrationshintergrund haben einen schlechten Ruf. Warum?
Ellen Kollender: Aus der Sicht des Schulsystems machen sogenannte Migranteneltern fast immer irgendetwas falsch. Ein Beispiel: Wenn Migranteneltern beziehungsweise Eltern, die als solche wahrgenommen werden, nicht zum Elternsprechtag kommen, werden sie häufig als "Problemeltern" gelabelt. Das Problem wird dabei meist an der vermeintlich anderen Kultur oder Religion der Eltern festgemacht. Im Sinne von: Die Eltern erscheinen nicht in der Schule, weil ihre Kultur nun mal so ist. Andere Erklärungsansätze, zum Beispiel dass die Eltern oder ihre Kinder Diskriminierung in der Schule erlebt haben oder dass sich die Eltern in ihrer Freizeit bereits anderenorts stark einbringen, werden häufig nicht gesehen.
Was erwarten Schulen von den Eltern?
Seit dem PISA-Schock setzt der Staat in der Bildungspolitik verstärkt auf Elternbeteiligung und Eigenverantwortung. Das führt auch dazu, dass der Druck auf die Eltern deutlich steigt. Meine Forschung an Berliner Schulen zeigt, dass aktuelle Reformen bereits privilegierten Eltern – häufig Mittelschichtseltern ohne Migrationshintergrund – zusätzliche Vorteile und Einflussmöglichkeiten in der Schule verschaffen. Insbesondere sozio-ökonomisch schlechter gestellte Eltern werden hingegen zunehmend marginalisiert. Dass Rassismus und Diskriminierung aufgrund der sozialen Herkunft die Zusammenarbeit zwischen Eltern und Schulen beeinflussen können, wird bei den bildungspolitischen Reformen allerdings meist nicht thematisiert.
Woher kommt die Defizitperspektive auf Eltern mit Migrationshintergrund?
Sie ist nicht neu. Als Kinder von sogenannten Gastarbeitern 1964 schulpflichtig wurden, formulierte die Kultusministerkonferenz der Länder (KMK) das Ziel, sogenannten ausländischen Erziehungsberechtigten "deutsche Schulverhältnisse" näherzubringen und "ihr Interesse zu gewinnen". Das heißt im Umkehrschluss: Migranteneltern galten als unwissend und desinteressiert. Man ging bereits hier von einer quasi naturgegeben Kulturdifferenz zwischen Migranten und Menschen ohne Migrationshintergrund aus.
Und wie ist es heute?
Es gibt immer noch den Verdacht, Eltern mit Migrationsgeschichte seien wegen ihrer "Kultur" nicht zu einer schulischen Beteiligung fähig. Heute existiert für sie eine regelrechte Industrie von speziellen Elterncoachings, Kompetenztrainings und Integrationskursen. Die Kulturalisierung geschieht heute allerdings meist unterschwellig. Zum Beispiel indem den Eltern zusätzlich eine Bildungsferne zugeschrieben oder eine mangelnde Integrations- und Leistungsbereitschaft unterstellt wird. Solche verallgemeinernden Annahmen haben sich wie selbstverständlich in Gesellschaft, Politik und Schule eingeschrieben. Sie übersetzen sich in konkretes Handeln und führen vielfach zu Diskriminierung. Interessant ist dabei, dass eine solche Differenzlogik nie bei Aussiedlern aus Osteuropa ansetzte.
Dipl.-Pol. ELLEN KOLLENDER lehrt und forscht im Fachbereich Erziehungs-wissenschaft der Helmut-Schmidt-Universität Hamburg. Zu ihren Schwerpunkten gehören Bildung in der (Post-)Migrationsgesellschaft sowie Diskriminierung in Schule und Sozialraum. Mit der schulischen Beteiligung von Eltern mit Migrationsgeschichte befasst sie sich sowohl in ihrer Doktorarbeit als auch im Rahmen einer Diskursanalyse, die sie gemeinsam mit Professorin Mechtild Gomolla durchführt.
Was war bei ihnen anders?
Sie galten wegen ihrer "deutschen Abstammung" sofort als zugehörig. Die KMK empfahl deswegen schon Anfang der 1970er Jahre, dass man diese Eltern rasch einbeziehen und ihre Kinder fördern soll. Man hat ihre Situation viel pragmatischer betrachtet. Kinder von sogenannten Gastarbeitern hingegen wurden bis in die Neunziger Jahre häufig in separate "Ausländerklassen" geschickt. Für ihre Eltern bedeutete das zugleich den Ausschluss aus den Mitbestimmungsgremien der Schule. Wie ihre Kinder wurden sie im deutschen Regelschulsystem marginalisiert.
Wie gehen Migranteneltern mit stereotypen Zuschreibungen um?
Einige wollen sich stark vom Klischee der bildungsfernen Problemeltern abgrenzen. Sie zeigen mehr Engagement und setzen sich stärker unter Leistungsdruck als Eltern ohne Migrationsgeschichte. Schließlich sehen sie sich stets mit der Erwartung konfrontiert, sichtbare Nachweise für "gute Elternschaft" zu liefern – anders als Eltern, denen kein Migrationshintergrund zugeschrieben wird. Dann gibt es auch Eltern, die leise versuchen, Diskriminierung anzusprechen.
Warum pochen sie nicht lautstark auf ihre Rechte?
Wenn man zu laut ist, gilt man auch wieder als Problemfall. Oft finden Eltern sarkastische Töne, um Diskriminierungserfahrungen anzusprechen. Ein Beispiel, von dem mir eine Mutter mit Kopftuch berichtete: Ein Mathematik-Lehrer spricht sie bei einem Elternabend an. Er fragt: "Ihr Kind ist plötzlich so schlecht in Mathe, was ist denn bei Ihnen zu Hause los?” Die Mutter fasst das als eine Andeutung auf ihre Herkunft auf, will sich aber nicht aufregen. Also persifliert sie die Vorurteile des Lehrers. Sie sagt lachend und in fehlerfreiem Deutsch: "Was soll schon los sein? Wir essen eben den ganzen Tag Tiefkühlpizza und gucken türkische Serien.”
Funktionieren solche Taktiken?
Sie tragen vielleicht dazu bei, dass eine Mutter in den Augen der Lehrer besser dasteht. Aber die Normen "guter Elternschaft" wirken subtil und sind für die Eltern häufig schwer zu greifen. Auch weil die schulischen Praxen nicht immer eindeutig diskriminieren. Ein Beispiel ist das Elterncafé. Dieses entwickelt sich an einigen Schulen zu einer Maßnahme, über die vor allem Eltern mit Migrationsgeschichte einbezogen werden sollen. Tatsächlich fühlen sich viele Eltern, die sich sonst weniger in der Schule aufhalten, durch die Elterncafés angesprochen. Diese werden aber von den Schulleitungen häufig auch genutzt, um die fehlende Beteiligung bestimmter Eltern in Schulgremien zu legitimieren. Die mögliche Konsequenz: Die "Migranteneltern" spielen im Elterncafé Bingo, während die "deutschen Eltern” in der Schulkonferenz über die programmatische Entwicklung der Schule mitbestimmen.
Wie sieht ein Schulsystem aus, das Migranteneltern besser einbezieht?
Ansätze dafür liefert die Neufassung des KMK-Beschlusses "Interkulturelle Bildung und Erziehung" aus dem Jahr 2013. Die "Schulzufriedenheit" der Eltern ist heute für die KMK ein zentrales Kriterium interkultureller Schulentwicklung. Als Ziel wird eine demokratische, diskriminierungsfreie Öffnung der Schulen formuliert. Bei der Konzeption von Ansätzen schulischer Elternbeteiligung müssen unterschiedliche Formen von Diskriminierung von Eltern sowie asymmetrische Machtbeziehungen zwischen Schule und Elternhaus berücksichtigt werden. Die Schule könnte in Sachen Elternbeteiligung ihr Potential als öffentlicher Raum besser und kreativer nutzen. Dies setzt allerdings unter anderem voraus, dass Lehrkräften nicht zugemutet wird, Elternbeteiligung als zusätzliche Aufgabe neben ihrer regulären Arbeit im Klassenraum zu stemmen, sondern die Zeit, die eine solche Form der Elternbeteiligung braucht, entsprechend honoriert wird.
Interview: Pavel Lokshin
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