Herr Uslucan, statistisch gesehen sind zwei bis drei Prozent aller Kinder hochbegabt, haben also einen IQ von mindestens 130. Demnach müssten in Deutschland eigentlich Zehntausende Migrantenkinder besonders gefördert werden.
Uslucan: Die Realität ist leider eine andere. Obwohl in Deutschland fast jedes dritte Kind einen Migrationshintergrund hat, macht diese Gruppe in den Förderprogrammen für Hochbegabung laut einer Studie der Erziehungswissenschaftlerin Margrit Stamm nicht etwa 30 Prozent aus – sondern lediglich vier bis neun Prozent. Das Talent der anderen bleibt unerkannt, dabei geht es hier um mehr als 80.000 junge Menschen.
Woran liegt das?
Uslucan: 40 Prozent der Kompetenzunterschiede zwischen deutschen und migrantischen Kindern sind auf mangelnde Sprachkenntnisse zurückzuführen. Trotzdem konzentrieren sich die diagnostischen Verfahren, durch die eine Hochbegabung ermittelt wird, in erster Linie auf die Sprachkompetenz. Wenn ein Schüler nur geringe Deutschkenntnisse hat, versteht er einzelne Wörter oder ganze Instruktionen nicht. Diese sprachlichen Defizite verfälschen das Ergebnis. Wenn ein Befragter zum Beispiel einen Purzelbaum für einen richtigen Baum hält, kann er die ihm gestellte Aufgabe nicht lösen.
Welche Schwierigkeiten gibt es jenseits der sprachlichen Defizite?
Uslucan: Auch die abgefragten Inhalte der Intelligenztests haben für Migranten oft nicht dieselbe Alltagsrelevanz wie für Einheimische. Viele Zuwandererfamilien haben ein ganz anderes Weltwissen als die Märchen der Gebrüder Grimm, in Deutschland gebräuchliche Abzählreime oder Lieder. Ich zum Beispiel bin mit acht Jahren nach Deutschland gekommen und kenne bis heute kaum deutsche Volkslieder. Wir müssen uns eines klar machen: Langfristig führt diese kulturell gebundene Talentauffassung dazu, dass wir viel Potenzial überhaupt nicht erkennen und die Begabungen nach dem Motto „use it or lose it“ irgendwann ganz verloren gehen.
Das Testverfahren muss also verändert werden?
Uslucan: Ja, das ist dringend notwendig. Wichtig ist aber auch, dass die verschiedenen kulturellen und sprachlichen Hintergründe schon bei der Erstellung der allerersten Stichprobe berücksichtigt werden. Denn an dieser sogenannten Normstichprobe werden spätere Testergebnisse gemessen. In den USA werden auch für die Normstichprobe längst nicht mehr nur weiße Mittelschichtskinder getestet, sondern auch junge Menschen mit afroamerikanischen Wurzeln.
Was können die Pädagogen tun – die ja ebenfalls überwiegend aus der bildungsbürgerlichen Mittelschicht stammen?
Uslucan: Lehrer können vor allem zwei Dinge tun: Zum einen sollten sie die Leistungen ihrer Schüler nicht nur grob in richtig und falsch unterteilen, sondern schauen, ob den Fehlern ihrer Schüler eine Systematik zugrunde liegt. Kindern mit der Erstsprache Türkisch unterlaufen zum Beispiel öfter Zahlendreher – weil sie die Ziffern falsch übersetzen, und so statt 13 und 14 etwa 31 und 41 addieren. Einem entwicklungspsychologisch sensiblen Pädagogen sollte das auffallen. Zum anderen brauchen wir – in der Gesellschaft überhaupt, in der Schule und in den Testverfahren – eine andere, pluralistischere Anerkennungskultur. Denn Kinder mit Migrationshintergrund machen in Deutschland leider immer wieder die Erfahrung, dass ihre Begabungen und Talente nicht gewürdigt werden. Etwa, dass sie fließend Türkisch, Arabisch oder Russisch sprechen, ein traditionelles Musikinstrument spielen oder große Teile des Korans auswendig können: das ist eine enorme Gedächtnisleistung.
Was muss die Wissenschaft hier leisten?
Uslucan: Im Vergleich zur entwicklungspsychologischen Literatur, die es in den USA zu diesem Thema gibt, haben wir in Deutschland noch viel aufzuholen. Wir müssen das Thema stärker in den Mittelpunkt rücken. Die Forschungslage ist in den USA viel besser, und es gibt dort eine stärkere Sensibilität für die Frage, ob Minoritäten in den Förderprogrammen vertreten sind oder nicht.
Wie können zugewanderte Eltern ihre Kinder unterstützen?
Uslucan: Die Kinder sollten so früh wie möglich Deutsch lernen. Darüber hinaus ist es – natürlich für alle Eltern – wichtig, nicht nur die Defizite ihrer Kinder zu betrachten, sondern deren Talente aufzuspüren. Und dafür zu sorgen, dass diese Fähigkeiten gefördert werden. Zugewanderte Eltern kennen sich oft nicht mit dem deutschen Schulsystem aus, viele von ihnen sind selbst nur ein paar Jahre zur Schule gegangen. Sie kennen noch weniger als Einheimische die vorhandenen Begabtenförderprogramme in Deutschland. Sie verlassen sich deshalb häufig auf die fachliche Qualifikation der Pädagogen und glauben – aus Bescheidenheit oder Unsicherheit – nicht an besondere Begabungen ihrer Kinder.
Prof. Dr. Haci Halil Uslucan ist Wissenschaftlicher Leiter des Zentrums für Türkeistudien und Integrationsforschung in Essen. Seine Schwerpunkte liegen unter anderem auf Erziehung und Entwicklung sowie pädagogische Psychologie von Kindern aus Migrantenfamilien. Uslucan ist Mitglied im Rat für Migration.
Das Interview führte Rita Nikolow
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