Mediendienst Integration: In den Sondierungsgesprächen zwischen Union, FDP und den Grünen geht es auch um die Flüchtlingspolitik. Eine Streitfrage dabei ist die nach dem Familiennachzug. Bislang blieb die Zahl der Angehörigen von Geflüchteten, die nach Deutschland gezogen sind, gering. Sie haben eine Berechnung vorgelegt, wie viele Angehörige zu Flüchtlingen maximal nachreisen werden. Zu welchen Ergebnissen sind Sie gekommen?
Herbert Brücker: Wir haben berechnet, wie viele Ehepartner und Kinder von erwachsenen Geflüchteten derzeit im Ausland leben und möglicherweise nach Deutschland nachreisen. Im Fall von anerkannten Flüchtlingen sind das etwa 100.000 bis 120.000 Menschen. Das macht maximal 0,3 nachzugsberechtigte Personen pro erwachsenem Flüchtling. Bei subsidiär Schutzberechtigten sind es etwa 50.000 bis 60.000 Angehörige zusätzlich – falls der Familiennachzug für sie ab März 2018 wieder zugelassen wird. Das macht zusammen maximal 180.000 Angehörige, die nachziehen könnten. Ob wirklich so viele kommen, weiß man aber nicht. Nicht berücksichtigt sind in den Schätzungen der Nachzug zu unbegleiteten Minderjährigen und der Nachzug von Eltern und sonstigen Familienangehörigen, die nur in besonderen Härtefällen nachziehen dürfen.
Ihre Zahlen sind deutlich niedriger als bei bisherigen Schätzungen, wonach auf jeden Flüchtling ein Familienangehöriger nachzieht. Wie kommt dieser Unterschied zustande?
Sehr viel höhere Schätzungen, die teilweise in der öffentlichen Debatte genannt werden, haben nach meinem Eindruck keine Grundlage. Ich habe bei verschiedenen Behörden, z.B. beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge und dem Auswärtigen Amt nachgeforscht. Außer den erteilten Visa durch das Auswärtige Amt und den Zahlen zum tatsächlichen Familiennachzug habe ich keine Datenquelle gefunden. Und mit diesen Zahlen liegt man weit unter einem Faktor von Eins. Ich kenne bislang keine Quellen, auf die sich die Schätzung eines Faktors von Eins oder höher seriös und methodisch gesichert stützen könnte.
Prof. Dr. Herbert Brücker ist Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) und leitet den Forschungsbereich Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). (Foto: Murr)
Worauf beruht Ihre Berechnung?
Wir sind von Daten einer repräsentativen Befragung von Geflüchteten ausgegangen, die wir zusammen mit dem BAMF und dem SOEP durchführen. In dieser Studie haben wir knapp 4.700 Geflüchtete unter anderem nach ihrem Familienstand befragt und danach, wie viele Familienangehörige im Ausland leben. Die Stichprobe ist repräsentativ für alle Flüchtlinge, die von Anfang 2013 bis Ende Januar 2016 nach Deutschland gezogen sind, also für den Großteil der heute in Deutschland lebenden Flüchtlinge. Die auf dieser Grundlage ermittelten Nachzugsfaktoren haben wir dann, vereinfacht gesagt, auf die Gesamtheit der anerkannten Flüchtlinge in Deutschland hochgerechnet.
Ein Kritikpunkt an dieser Berechnung ist, dass nur erwachsene Geflüchtete befragt wurden.
Wir haben nie behauptet, Schätzungen zu minderjährigen Flüchtlingen abgeben zu können. Das Nachzugspotenzial würde durch die Gruppe der unbegleiteten Minderjährigen in der Tat steigen. Ich persönlich halte den Einfluss auf das Nachzugspotenzial aber für gering. Laut einer Bundestagsanfrage lebten im Februar 44.000 unbegleitete Minderjährige in Deutschland, davon hat rund die Hälfte einen Asylantrag gestellt. Die Zahl der unbegleiteten Minderjährigen nimmt zudem schnell ab. Wenn wir die Gruppe der Syrer betrachten, dann entfielen im Jahr 2016 95 Prozent des Familiennachzugs auf Ehepartner oder Kinder. Familienangehörige von Minderjährigen machen nur eine verschwindende Minderheit aus. Das heißt, wir reden hier über eine sehr, sehr kleine Gruppe.
Sie haben gesagt, dass maximal 180.000 Ehepartner und Kinder nachziehen. Warum werden es aber nach Ihrer Einschätzung letztlich wohl weniger Menschen sein?
Diese Zahl bezieht sich auf die rechtlich nachzugsberechtigten Personen, die zu anerkannten Asylberechtigten, Flüchtlingen und subsidiär Geschützten ziehen könnten. Fast alle Flüchtlinge wollen ihre Angehörigen nachholen, aber dem stehen häufig praktische Probleme entgegen. Sei es, dass diese kein Visum bekommen, oder keinen Termin bei der Botschaft oder sei es, dass sie die Fristen nicht einhalten können, weil ihnen bestimmte Dokumente fehlen. Wieder andere müssen Familienangehörige pflegen oder trennen sich von ihren Ehepartnern. Es können also durchaus weniger kommen.
Interview: Carsten Janke
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