Zum Hintergrund:
Im Herbst 2009 erschien in der Kulturzeitschrift "Lettre International" ein Interview mit Thilo Sarrazin. Darin hatte der damalige Bundesbank-Vorsitzende und ehemalige Berliner Wirtschaftssenator sich insbesondere über Migranten mit türkischem und arabischem Hintergrund herabwürdigend geäußert: Ein Großteil der in Berlin lebenden Türken und Araber habe "keine produktive Funktion, außer für Obst- und Gemüsehandel", so Sarrazin. Im Vergleich zu anderen Zuwanderergruppen seien diese "absolut abfallend".
Die meisten von ihnen seien weder integrationswillig noch integrationsfähig. "Die Türken erobern Deutschland genau so wie die Kosovaren das Kosovo erobert haben: Durch eine höhere Geburtenrate." Zudem würden bei ihnen "ständig Bräute zugeliefert", bei den Arabern sei es "noch schlimmer". Wenn hingegen die Anzahl der osteuropäischen Juden steigen würde, hätte er nichts dagegen. Diese hätten einen um 15 Prozent höheren IQ als die deutsche Bevölkerung, so Sarrazin im Interview.
Aufgrund dieser Äußerungen hatten der Türkische Bund Berlin-Brandenburg (TBB) und mehrere Einzelpersonen Strafantrag gegen Sarrazin wegen Volksverhetzung (§ 130 StGB) und Beleidigung (§ 185 StGB) gestellt. Die Berliner Staatsantwaltschaft stellte das Verfahren jedoch ein. Der Widerspruch dagegen wurde zurückgewiesen.
Daraufhin reichte der TBB im Mai 2010 eine Beschwerde bei einem Ausschuss der UN ein, der die Einhaltung der Antirassismuskonvention überwacht. Das "Committee on the Elimination of Racial Discrimination" (CERD) kam zu einem eindeutigen Urteil: Die Äußerungen Sarrazins beruhen auf einer "Ideologie der rassischen Überlegenheit" und des "Rassenhasses" und enthalten Elemente der "Aufstachelung zur Rassendiskriminierung".
Der TBB hat den Fall auf seiner Website dokumentiert. Das Deutsche Institut für Menschenrechte hat eine Pressemitteilung zur Entscheidung des Ausschusses veröffentlicht. Bereits im Dezember 2011 hatte es eine Stellungnahme zum Verfahren abgegeben, die Hendrik Cremer mitverfasst hat.
INTERVIEW: HENDRIK CREMER ZUR UN-ENTSCHEIDUNG
Herr Cremer, 2010 hat die Berliner Staatsanwaltschaft eine Anklage Thilo Sarrazins wegen Volksverhetzung und Beleidigung abgelehnt, eine Beschwerde des TBB dagegen blieb ebenso erfolglos. Mit welcher Begründung?
Die Staatsanwaltschaft hat den Tatbestand der Beleidigung geprüft. Dass sie ihn in diesem Fall als nicht erfüllt angesehen hat, ist nicht untypisch: Nach der gängigen Rechtsprechung sind Kollektiv-Beleidigungen nämlich nicht möglich. Wenn sich Äußerungen gegen eine große Anzahl von Personen richten, wird regelmäßig davon ausgegangen, dass es ihnen an Intensität fehlt, um beleidigenden Charakter zu haben. Dann spielt es auch keine Rolle mehr, ob Äußerungen rassistisch sind.
Und was ist mit dem Vorwurf der Volksverhetzung?
Es wurde auch geprüft, ob Sarrazin mit seinen Äußerungen zu Hass aufgestachelt hat oder ob sie die Menschenwürde angegriffen hätten. Auch hier kam die Staatsanwaltschaft zu einem negativen Urteil. Bemerkenswerterweise wurde dabei auch mit dem Amt Sarrazins als ehemaliger Berliner Finanzsenator und den vermeintlichen Einsichten, die er daraus gewonnen hat, argumentiert.
Die Anklage wurde also auch abgelehnt, weil Sarrazin ein bekannter Politiker ist?
Zumindest wurden bisher meist nur Personen wegen rassistischer Äußerungen verurteilt, die eindeutig dem rechtsextremen Umfeld angehörten. Der Rassismus aus der Mitte der Gesellschaft wird unter Umständen nicht als solcher gesehen. Es geht also auch um das Verständnis von Rassismus.
Muss aus Ihrer Sicht nachgebessert werden?
Ja, Gesetzgebung und Praxis müssen auf den Prüfstand. Genau das fordert auch der UN-Ausschuss gegen Rassismus in der jetzt veröffentlichten Entscheidung. Er empfiehlt Deutschland, Gesetze zum Schutz vor rassistischen Äußerungen, aber auch die Anwendung der Gesetze zu prüfen. Konkret könnte das zum Beispiel bedeuten, den Schutz vor rassistischen Äußerungen ausdrücklich in der Gesetzgebung zu verankern. Darüber hinaus sollten das Thema Rassismus und die Inhalte der Antirassismus-Konvention Teil der juristischen Ausbildung und der Weiterbildung von Staatsanwälten und Richtern werden.
Der Einwand aus Genf kommt ziemlich spät. Warum hat es über 3 Jahre gedauert, bis der UN-Ausschuss seine Entscheidung gefällt hat?
Der Ausschuss kommt nur zweimal pro Jahr zusammen. Er überprüft die Einhaltung der Antirassismus-Konvention in 175 Staaten. Die Kapazitäten sind also beschränkt. Mehrjährige Entscheidungsprozesse sind durchaus normal.
Welche Folgen hat die UN-Rüge für Deutschland?
Sie ist kein verbindliches Gerichtsurteil. Aber der UN-Ausschuss stellt ganz konkrete Forderungen: Deutschland soll den gesetzlichen Schutz vor rassistischen Äußerungen sicherstellen und den Verpflichtungen aus der Antirassismus-Konvention nachkommen. Und die Entscheidung soll breit bekannt gemacht werden, besonders bei Staatsanwälten und Richtern. Innerhalb von 90 Tagen muss die Bundesregierung dem Ausschuss dann einen Bericht vorlegen, welche Maßnahmen sie ergriffen hat, um das umzusetzen.
Was passiert, wenn nichts passiert?
Deutschland wird darauf antworten. Ich bin sehr zuversichtlich, dass die Bundesregierung den Empfehlungen des Ausschusses nachkommt. Es geht auch um das internationale Ansehen Deutschlands.
Was ist für Sie wichtig an dieser Entscheidung?
Dass zur Kenntnis genommen wird, dass es sich bei den Äußerungen Sarrazins um Rassismus handelt. Seine Aussagen wurden zwar oft kritisiert. Der Begriff „Rassismus“ ist dabei aber nur sehr selten gefallen. Die Entscheidung ist vor diesem Hintergrund von grundsätzlicher Bedeutung. Sie ist ein wichtiges Signal für die Öffentlichkeit, aber auch für die Betroffenen, dass sie sich dagegen zur Wehr setzen können.
Text und Interview: Rana Göroğlu
Hendrik Cremer ist wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Deutschen Institut für Menschenrechte. Zu den Schwerpunkten des Juristen gehören die Themen Asyl und Migration, Rassismus und Kinderrechte. Im Zuge der Sarrazin-Debatte hat er ein Papier zur Frage "Was ist eigentlich Rassismus?" veröffentlicht.
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