Seit 15 Jahren erhebt das Statistische Bundesamt den sogenannten Migrationshintergrund im Mikrozensus, um Daten über Zugewanderte und ihre Nachkommen zu erfassen. Der "Migrationshintergrund" steht immer mehr in der Kritik. Doch welche Alternativen gibt es? Der MEDIENDIENST hat die wichtigsten Informationen rund um den "Migrationshintergrund" zusammengetragen.
Das Infopapier können Sie HIER herunterladen.
Wer hat einen "Migrationshintergrund"?
Laut Statistischem Bundesamt hat eine Person einen "Migrationshintergrund", wenn "sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt." Einen "Migrationshintergrund" haben damit zum einen Ausländer*innen, zum anderen aber auch Deutsche, die zum Beispiel einen Elternteil mit ausländischer Staatsbürgerschaft haben.Quelle
Ende 2018 hatten 20,8 Millionen Menschen – also jede vierte Person – in Deutschland laut Statistischem Bundesamt einen "Migrationshintergrund". Davon hat rund die Hälfte einen deutschen Pass. 13,5 Millionen haben eine eigene Migrationserfahrung, sind also im Ausland geboren und eingewandert.Quelle
Was ist die Kritik?
Der "Migrationshintergrund" steht zunehmend in der Kritik. Die statistische Erfassung ist zu komplex und undurchsichtig, so Fachleute. Auch die Verwendung in der Alltagssprache sei problematisch:
- "Migrationshintergrund" sagt nichts über Lebensrealitäten aus: er gibt weder Auskunft über die soziale Lage, noch darüber, ob eine Person Diskriminierung erfährt. Viele Menschen sind Diskriminierungen ausgesetzt, auch wenn sie oder ihre Eltern nicht zugewandert sind, wie etwa viele Sinti*ze.
- Der Begriff wird als stigmatisierend empfunden: "Migrationshintergrund" wird oft mit Problemen – etwa schlechterem Abschneiden in der Schule – in Zusammenhang gebracht. Viele Menschen, denen ein "Migrationshintergrund" zugeschrieben wird, empfinden das als stigmatisierend und ausgrenzend.
- Es geht nicht um Migration: "Migrationshintergrund" klingt so, als wären Menschen selbst zugewandert. Rund 31 Prozent der Menschen mit "Migrationshintergrund" sind aber in Deutschland geboren. Hingegen haben Kinder, die von deutschen Eltern im Ausland geboren wurden und dann nach Deutschland gezogen sind, keinen "Migrationshintergrund".Quelle
Was sind Alternativen?
Fachleute schlagen vor, "Migrationshintergrund" nach Möglichkeit zu vermeiden und stattdessen konkretere Begriffe zu verwenden – je nachdem was gemeint ist: Zuwanderung, Diskriminierung, die soziale Lage oder die Sprache, die in der Familie gesprochen wird.
Wenn es um Zuwanderung geht...
Die Neuen deutschen Medienmacher*innen (ndm) schlagen folgende Alternativen vor, die weniger abstrakt und konkreter seien:
- Einwanderer und ihre Nachkommen
- Menschen aus Einwandererfamilien
- Menschen mit internationaler Geschichte.
Weitere alternative Begriffe sind zum Beispiel "türkeistämmig", "postmigrantisch", "Deutsche mit italienischen Vorfahren", oder "Mehrheimische". Begriffe wie "Polnisch-Deutsche" ermöglichen, die internationale Biographie von Menschen zu beschreiben. Grundsätzlich müsse jedoch hinterfragt werden, ob die Einwanderungsgeschichte überhaupt relevant ist für das, was man sagen will. Einige Initiativen verwenden spielerisch das Wort "deutsch" in ihrem Namen, wie "DeutschPlus" oder die "neuen deutschen organisationen". Damit wollen sie einerseits betonen, dass sie Teil der Gesellschaft sind, und andererseits deutlich machen, dass "Deutschsein" für sie nicht von der Herkunft abhängt.Quelle
Wenn es um Diskriminierung geht...
"Wenn es um rassistische Diskriminierung geht, muss diese konkret benannt werden", sagt der Politikwissenschaftler Kwesi Aikins. Den "Migrationshintergrund" bezeichnet er in diesen Fällen als "Vermeidungsbegriff". "Denn Personen, die Rassismus erfahren, sind immer häufiger weder selbst zugewandert noch die Kinder von Zugewanderten", so Aikins.
Die Neuen deutschen Medienmacher*innen schlagen vor, auf Selbstbezeichnungen der jeweiligen Gruppen zurückzugreifen: zum Beispiel Person of Color.
Soll man den "Migrationshintergrund" weiter statistisch erfassen?
Auch bei der statistischen Erfassung schlagen Expert*innen vor, zu erfassen, um was es geht – zum Beispiel Zuwanderung oder Diskriminierung.
Wie lässt sich Zuwanderung statistisch erfassen?
Statt den "Migrationshintergrund" zu erfassen, solle das Statistische Bundesamt lediglich Fragen zur tatsächlichen Einwanderung erfassen, so die Sozialwissenschaftlerin Linda Supik. Zwei Fragen würden dafür ausreichen:
- "Wurden Sie in Deutschland oder im Ausland geboren?" – Falls Personen im Ausland geboren wurden, sind sie Einwanderer.
- "Wurden Ihre Eltern im Ausland oder in Deutschland geboren?" – Falls beide Eltern im Ausland geboren wurden, kommen Personen aus Familien mit Einwanderungsgeschichte, oder sind Einwandererkinder.
Damit würden Personen, die nur einen ausländischen Elternteil haben, nicht als Zugewanderte gelten. So ist es auch in der PISA-Studie. Der Grund: Man geht davon aus, dass diese Kinder gleiche Voraussetzungen haben wie Personen, bei denen beide Eltern aus Deutschland kommen.Quelle
Wie lässt sich rassistische Diskriminierung erfassen?
Befragungen zum Thema Diskriminierung gibt es bisher wenige. "Um Maßnahmen gegen Diskriminierung entwickeln zu können, brauchen wir mehr Daten", sagt Teresa Ellis. Sie ist Leiterin des Projekts "#AFROZENSUS". Die Onlinebefragung erfasst dieses Jahr die Diskriminierungserfahrungen Schwarzer, afrikanischer und afrodiasporischer Menschen in Deutschland. Das Projekt wird von der Selbstorganisation Each One Teach One (EOTO) durchgeführt.
"Wichtig ist, dass Menschen zum einen selbst angeben können, wie sie sich identifizieren. Zum anderen müssen sie sagen können, wie sie von anderen wahrgenommen werden", sagt Kwesi Aikins von der Organisation Citizens for Europe, die den #AFROZENSUS unterstützt. Denn Diskriminierung geschehe über Fremdzuschreibung und diese unterscheide sich oft von der Selbsteinschätzung, so Aikins.
Wichtige Quellen
Will (2018): "Migrationshintergrund im Mikrozensus. Wie werden Zuwanderer und ihre Nachkommen in der Statistik erfasst?" Expertise für den MEDIENDIENST // LINK
Ahyoud et al. (2018): "Wer nicht gezählt wird, zählt nicht. Antidiskriminierungs- und Gleichstellungsdaten in der Einwanderungsgesellschaft - eine anwendungsorientierte Einführung." Vielfalt entscheidet - Diversity in Leadership, Citizens For Europe (Hrsg.), Berlin. // LINK
Neue deutsche Medienmacher*innen (2019): NdM-Glossar. Wörterverzeichnis der Neuen deutschen Medienmacher*innen (NdM) mit Formulierungshilfen, Erläuterungen und alternativen Begriffen für die Berichterstattung in der Einwanderungsgesellschaft. // LINK
Von Sarah Gräf und Andrea Pürckhauer
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