Die Zahl der Asylsuchenden geht zurück, einst überfüllte Notunterkünfte stehen jetzt leer. Doch die sogenannte Flüchtlingskrise hat tiefe Spuren hinterlassen, schreibt der Vorsitzende des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) Thomas Bauer im Vorwort des diesjährigen SVR-Jahresgutachtens. Das „Gemeinsame Europäische Asylsystem" sei weitgehend zusammengebrochen, die Mitgliedstaaten der Europäischen Union im Dauerstreit über Grenzpolitik und rechtspopulistische Parteien machten sich das Thema „Flüchtlingskrise" zunutze, um Angst und Ressentiments zu schüren, so Bauer.
In seinem aktuellen Jahresgutachten analysiert der SVR alle Stufen des Asyl-Prozesses – von der Registrierung bis hin zur langfristigen Integration. In erster Linie geht es um die Frage, wie das Asylsystem geändert werden soll, denn, in den Worten des SVR: "Eine Zuwanderung von Flüchtlingen auf dem Niveau der letzten beiden Jahre ist nicht dauerhaft ohne Konflikte und Spannungen zu bewältigen. Insbesondere eine Situation wie im Jahr 2015 sollte die Ausnahme bleiben." Die Kernbotschaft lautet: Die sogenannte Flüchtlingskrise bietet eine Chance, um die Asylpolitik – sowohl auf nationalstaatlicher als auch auf europäischer Ebene – zu überdenken.
Mehr Europa, mehr Integration
Eine funktionierende Asylpolitik könne es nur geben, wenn die einzelnen Mitgliedstaaten und die Europäische Union wirksam zusammenarbeiten. Deshalb fordert der SVR einen stärkeren Einsatz europäischer Institutionen wie etwa der Grenzschutzagentur Frontex und des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (EASO). Frontex und EASO sollten eine größere Rolle in der Regulierung der Flüchtlingsmigration spielen – sowohl im Bereich der Grenzsicherung als auch bei der Registrierung von Asylsuchenden und der Bearbeitung ihrer Asylanträge. Nationale Institutionen sollten sich hingegen vor allem der schnellen Integration von Geflüchteten widmen.
Die zentralen Forderungen
- Aufnahmeprogramme: Die individuelle (oftmals irreguläre) Einreise in die EU ist für die meisten Geflüchteten der einzige Weg, um Schutz zu bekommen. Das Ergebnis: Viele Menschen müssen ihr Leben Schleusern anvertrauen, um in die EU zu gelangen. Durch Aufnahmeprogramme wie das Resettlement-Programm der EU oder das "1:1-Verfahren" im Rahmen des EU-Türkei-Deals könnten Schutzsuchende dem SVR zufolge direkt aus Herkunfts- oder Transitstaaten in die Mitgliedstaaten verteilt werden. Bislang wurden diese Instrumente jedoch unzureichend genutzt. Der SVR schlägt vor, nach dem Modell des EU-Türkei-Deals Aufnahmezentren in den Transitländern einzurichten und Flüchtlinge von dort aus aufzunehmen. Das sollte im Rahmen eines globalen Resettlement-Programms geschehen, welches gleichzeitig dafür sorgen müsste, dass Flüchtlinge menschenrechtskonform untergebracht und behandelt werden.
- Verteilung: Die meisten Asylsuchenden leben nach wie vor in wenigen EU-Mitgliedstaaten. Das Verteilungssystem, das 2015 eingeführt wurde, habe bislang wenig Wirkung gezeigt. Der SVR plädiert deshalb für ein System, in dem die Ankunftsstaaten für Registrierung und Asylverfahren zuständig sind, ähnlich der "Dublin"-Verordnung. Anerkannte Flüchtlinge sollen sich jedoch wie EU-Bürger frei in der EU bewegen können. Um eine starke Konzentration in bestimmten Mitgliedstaaten zu verhindern, könnte diese Freizügigkeit (wie bei EU-Bürgern) an die Fähigkeit gebunden werden, den eigenen Lebensunterhalt zu bestreiten.
- Bleibeperspektive: Nicht alle Menschen, die als Asylsuchende in die EU einreisen, haben einen Anspruch auf Schutz. Ihnen die Möglichkeit anzubieten, als Flüchtlinge einzureisen, um später als Arbeitsmigranten zu bleiben, wäre ein falscher Anreiz, schreiben die SVR-Experten. Flüchtlings- und Arbeitsmigration sollten getrennt bleiben. Es müssten jedoch Instrumente geschaffen werden, die es auch Menschen ohne höhere Qualifikationen möglich machen, in die EU einzuwandern und hier eine Arbeit zu finden. Ein wichtiger Schritt in diese Richtung sei gewesen, Menschen aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten des Westbalkan ein Arbeitsvisum für Deutschland anzubieten. 2016 haben etwa 27.000 Menschen von dieser Maßnahme profitiert. Der SVR fordert zudem eine einheitliche Liste der "sicheren Herkunftsstaaten" für die gesamte Europäische Union, um das sogenannte Asylum-Shopping zu vermeiden.
- Rückführung: Dem SVR zufolge sollten Asylsuchende, die in Deutschland keine Bleibeperspektive haben, das Land möglichst schnell verlassen. Abgelehnte Asylbewerber in ihre Herkunftsländer abzuschieben, ist aber in vielen Fällen nicht möglich – etwa weil Reisedokumente fehlen oder das Herkunftsland nicht kooperiert. In den vergangenen Jahren hat sich gezeigt, dass die meisten abgelehnten Asylbewerber durch geförderte Rückkehr-Programme Deutschland verlassen haben. Derzeit gibt es jedoch in vielen Bundesländern keine zentrale Verwaltung für derartige Programme. Der SVR fordert: Alle Asylbewerber sollten über die Möglichkeit einer geförderten Rückkehr informiert werden.
- Integration: Asylsuchenden, die hingegen länger in Deutschland bleiben werden, müsste so früh wie möglich die Integration ermöglicht werden. Bildung und Arbeitsmarkt seien dafür entscheidende Bereiche: So sollte in allen Bundesländern möglichst früh die Schulpflicht für alle Flüchtlingskinder gelten. Derzeit ist das in einigen Bundesländern erst nach mehreren Monaten der Fall. Um Flüchtlingen einen schnellen Zugang zum Arbeitsmarkt zu ermöglichen, müsste der deutsche Arbeitsmarkt die Anforderungen an arbeitssuchende Flüchtlinge reduzieren. Insbesondere sollten sie die Möglichkeit haben, informelle Qualifikationen wie etwa Berufserfahrung zu nutzen. Die Auswirkungen der Flüchtlingsmigration auf den Arbeitsmarkt – sowohl im positiven als auch im negativen Sinn – werden nach Ansicht des Sachverständigenrats jedoch nicht besonders spürbar sein.
Welche Kritik gibt es an den Forderungen des SVR?
Einige der vorgeschlagenen Maßnahmen sind umstritten. So wird etwa der sogenannte EU-Türkei-Deal kritisiert, der die Menschenrechte von Flüchtlingen in der Türkei und Griechenland verletze. Auch die Aufnahme in Drittstaaten hat sich in der Praxis als äußerst problematisch erwiesen, wie der SVR in seiner Pressemitteilung selbst unterstreicht. Versuche wie etwa in Mauretanien und Libyen führten in der Vergangenheit zu massiven Menschenrechtsverletzungen.
Ebenso skeptisch gesehen wird die Idee, das Instrument der "sicheren Herkunftsstaaten" konsequenter zu nutzen. So hat die Hildegard-Lagrenne-Stiftung die Lebensumstände in "Ankunfts- und Rückführungszentren" für Asylsuchende aus dem Westbalkan analysiert. Aus der Studie geht hervor: Besonders Kinder leiden dort unter erhöhter Stressbelastung und mangelnder Integration. Zudem ließen sich einzelne Herkunftsstaaten mit Schwierigkeiten als "sicher" einstufen – wie etwa das Beispiel von Bosnien-Herzegowina zeigt.
Von Fabio Ghelli
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