Postsowjetische Migration in Deutschland
Als postsowjetische Migrant*innen gelten Zugewanderte aus den ehemaligen sowjetischen Staaten. Die meisten von ihnen kamen mit der Öffnung und Auflösung der ehemaligen Sowjetunion ab Ende der 1980er bis Mitte der 2000er Jahre nach Deutschland. Postsowjetische Migrant*innen und ihre Nachkommen bilden die größte Zuwanderungsgruppe in Deutschland.
Grundlage des Überblicks ist die Expertise "Postsowjetische Migration in Deutschland", die der Migrationsforscher Jannis Panagiotidis im Juni 2021 für den MEDIENDIENST INTEGRATION erstellt hat. >>Zur Expertise (PDF-Datei zum Download).
Wie viele postsowjetische Migrant*innen leben in Deutschland?
Postsowjetische Migrant*innen sind Personen, die aus dem Gebiet der ehemaligen Sowjetunion zugewandert sind und ihre Nachkommen. 2023 waren es etwa 4,5 Millionen Personen. Rund 3,6 Millionen von ihnen sind selbst zugewandert und haben hauptsächlich Bezüge zur Russischen Föderation (rund 29 Prozent), Kasachstan (rund 27 Prozent) und der Ukraine (rund 26 Prozent).Quelle
Seit der Ausweitung des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine sind viele Geflüchtete aus dem Land hinzugekommen. Mehr zu ukrainischen Geflüchteten finden sie hier.
Neben ukrainischen Geflüchteten sind laut Migrationsforscher Jannis Panagiotidis in einer Expertise aus dem Jahr 2021 zwei weitere Gruppen zentral:
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Russlanddeutsche (Spät-)Aussiedler*innen und ihre Familienangehörigen: Bis Ende 2022 wurden rund 2,4 Millionen von ihnen in Deutschland registriert.Quelle
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Jüdische Kontingentflüchtlinge und ihre Familienangehörigen: Seit den 1990er Jahren erhielten rund 220.000 eingewanderte Jüd*innen aus der ehemaligen Sowjetunion den Status als Kontingentflüchtling. Die meisten von ihnen kamen bis 2004 nach Deutschland, 2022 waren es noch 590 Personen.Quellen
Spätaussiedler und jüdische Kontingentflüchtlinge
(Spät-)Aussiedler*innen erhalten seit der frühen Nachkriegszeit einen besonderen Schutz in der Bundesrepublik. Die Bundesregierung unter Konrad Adenauer bot ihnen ab 1953 mit dem Bundesvertriebenengesetz an, gemeinsam mit ihren Familien einzuwandern und hier volle Bürger*innenrechte zu genießen. Laut Definition des Bundesinnenministeriums handelt es sich um "Personen deutscher Herkunft, die in Ost- und Südosteuropa sowie in der Sowjetunion unter den Folgen des Zweiten Weltkrieges gelitten haben (...) (und die) aufgrund ihrer Volkszugehörigkeit noch Jahrzehnte nach Kriegsende massiv verfolgt" wurden. Bis Ende 1992 eingewanderte postsowjetische Migrant*innen erhielten den Rechtsstatus "Aussiedler". Seit 1993 erhalten sie den rechtlichen Status "Spätaussiedler", nach der Anerkennung erhalten sie umgehend die deutsche Staatsangehörigkeit.Quellen
Laut Mikrozensus lebten 2023 rund 2,7 Millionen (Spät-)Aussiedler*innen in Deutschland.Quelle
Jüdische Kontingentflüchtlinge aus der ehemaligen Sowjetunion erhielten in der DDR sowie später im wiedervereinigten Deutschland Schutz vor zunehmendem Antisemitismus in der Sowjetunion und ihren Nachfolgestaaten. Gesonderte Asylanträge waren nicht nötig, der Nachweis einer jüdischen Identität genügte. Damit ging eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis einher. Die damalige Bundesregierung verstand die Aufnahme dieser Menschen auch als symbolische Wiedergutmachung für die Shoah.Quellen
Das änderte sich mit der Reform des Zuwanderungsgesetzes im Jahr 2005. Seitdem müssen sie belegen, dass eine jüdische Gemeinde sie aufnehmen würde. Zudem müssen sie Deutschkenntnisse sowie – bis auf wenige Ausnahmen – eine "positive Integrationsprognose" vorweisen. Rechtliche Grundlage ist §23 Abs. 2 AufenthG sowie eine Anordnung des BMI. Durch die Änderung sind seit 2005 jährlich viel weniger jüdische Kontingentflüchtlinge aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland gekommen als zuvor.Quellen
Sozioökonomische Teilhabe
Postsowjetische Migrant*innen erhielten unmittelbar nach ihrer Ankunft einen sicheren Aufenthaltsstatus, Spätaussiedler*innen die deutsche Staatsangehörigkeit. Sie hatten Anspruch auf Sprachkurse, Sozialhilfe sowie Wohn- und Arbeitslosengeld. Fachleuten zufolge verlief die Teilhabe am Arbeitsmarkt deswegen verhältnismäßig gut und privilegiert. Dennoch stehen viele von ihnen in einem prekären Arbeitsverhältnis, viele sind von Altersarmut betroffen.Quellen
Arbeitsmarkt
Die Erwerbsquote postsowjetischer Migrant*innen lag 2021 bei knapp 82 Prozent und somit etwas unter dem Niveau der Personen ohne Migrationshintergrund (84,6 Prozent). Die Erwerbslosenquote postsowjetischer Migrant*innen ist seit Mitte der 2000er Jahre stark zurückgegangen: 2005 lag sie bei 25 Prozent. 2021 lag der Wert bei rund 4 Prozent, also etwas höher als bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund (2,3 Prozent).Quellen
Es gibt auch aktuellere Zahlen, die aber nur bedingt aussagekräftig sind: Für 2023 lag die Erwerbsquote für Personen mit postsowjetischem Migrationshintergrund bei rund 74 Prozent und somit unter dem Niveau der Personen ohne Migrationshintergrund (86,7 Prozent). Ihre Erwerbslosenquote lag bei knapp 4 Prozent, etwas mehr als doppelt so hoch wie bei der Bevölkerung ohne Migrationshintergrund. In den Quoten für das Jahr 2023 sind in der Statistik Geflüchtete aus der Ukraine enthalten, die erst nach und nach in Arbeit kommen. Quelle
Unter den (Spät-)Aussiedler*innen arbeiten Frauen eher im Dienstleistungssektor (Einzelhandel, Reinigung, Pflege und Gastronomie). Männer hingegen sind überdurchschnittlich oft im Bau- sowie im produzierenden Gewerbe tätig.Quellen
Hartz-IV und Sozialhilfe
Die Anzahl der Hartz-IV-Bezieher*innen unter den postsowjetischen Migrant*innen ging zwischen 2005 und 2021 zurück. Es gibt jedoch Unterschiede: Während im Jahr 2021 rund 5 Prozent aller postsowjetischen (Spät-)Aussiedler*innen Hartz-IV-Leistungen erhielten, waren es unter den jüdischen Kontingentflüchtlingen 7,9 Prozent.Quellen
Jüdische Kontingentflüchtlinge beziehen auch öfter Sozialhilfe: Die Quote lag im Jahr 2021 bei 10,9 Prozent und somit signifikant höher als bei Personen ohne Migrationshintergrund (0,7 Prozent). Das liegt unter anderem daran, dass die akademischen Abschlüsse jüdischer Kontingentflüchtlinge oft nicht anerkannt wurden. Zudem konnten sie ihre Arbeitsjahre in der Sowjetunion nicht für die Altersversorgung in Deutschland anrechnen lassen.Quellen
Wo wohnen postsowjetische Migrant*innen?
Postsowjetische Migrant*innen wurden bundesweit anhand des Königsteiner Schlüssels verteilt, für Spätaussiedler*innen galt bis 2009 eine Wohnortzuweisung. Deshalb leben sie relativ gleichmäßig über das gesamte Bundesgebiet verteilt. In einigen Gebieten im Norden und Westen ist ihr Anteil an der Gesamtbevölkerung etwas höher, in Ostdeutschland geringer.Quellen
Der Anteil postsowjetischer Migrant*innen und ihrer Nachkommen an der Bevölkerung mit Migrationshintergrund ist insbesondere in ländlichen Gebieten hoch. Obwohl vergleichsweise wenige von ihnen in den ostdeutschen Bundesländern leben, machen sie einen erheblichen Teil der Bevölkerung mit Migrationshintergrund aus, da verhältnismäßig wenige Eingewanderte in diesen Gebieten leben.Quelle
Politische Einstellungen postsowjetischer Migrant*innen
Durch den "Fall Lisa" bekamen die politischen Einstellungen postsowjetischer Migrant*innen viel gesellschaftliche Aufmerksamkeit. Ihnen wurde vorgeworfen, anfällig für Propaganda aus Russland zu sein und überdurchschnittlich die AfD zu wählen.Quellen
Studien zeigen:
- CDU/CSU sind die beliebtesten Parteien unter postsowjetischen Wähler*innen, auch wenn die Zustimmungswerte für die Union seit 2014 sinken. Gleichzeitig geben immer mehr postsowjetische Migrant*innen an, die AfD wählen zu wollen – das legt nahe, dass der Rechtsruck im konservativen Spektrum stattfindet. Etwa 40 Prozent wählen regelmäßig Parteien aus dem linken politischen Spektrum oder beabsichtigen, dies zu tun.Quelle
- Einer 2022 vom Sachverständigenrat für Integration und Migration (SVR) veröffentlichten Studie zufolge seien höhere Zustimmungswerte für die AfD unter den russlanddeutschen (Spät-)Aussiedler*innen wahrscheinlicher, wenn ihr Vertrauen in deutsche Medien gering ist. Zudem biete die AfD als einzige Partei in Deutschland ihr Grundsatzprogramm in russischer Sprache an. Andere Faktoren wie Bildung, Einkommen und Geschlecht würden hingegen keine Rolle in der Wahlabsicht für die AfD spielen.Quelle
- Es gibt teils große Unterschiede zwischen den Generationen: Eine Studie der Boris Nemtsov-Foundation von 2016 ergab, dass die Elterngeneration, die in der ehemaligen Sowjetunion sozialisiert wurde, die Politik Russlands gegenüber dem Westen deutlich kritischer betrachtet als die jüngeren Nachfolgegenerationen.Quelle
Wie viele russischsprachige Menschen leben in Deutschland?
Schätzungsweise 2,5 Millionen Menschen sprechen laut Mikrozensus in Deutschland überwiegend oder zum Teil Russisch: Rund 1,9 Millionen Menschen sprechen zu Hause vorwiegend Russisch. Hinzu kommen 584.000 Menschen mit postsowjetischem Migrationshintergrund, die laut der Statistik vorwiegend Deutsch zu Hause sprechen. Nach Einschätzung des Migrationsforschers Jannis Panagiotidis nutzen sie sehr wahrscheinlich Russisch als Zweitsprache.Quellen
Eine 2016 veröffentlichte Studie der Boris Nemtsov Foundation ergab, dass von 61 Prozent der Erwachsenen mit postsowjetischem Migrationshintergrund Russisch die Herkunftssprache ist, weitere 27 Prozent können es fließend sprechen. Elf Prozent der Befragten haben eingeschränkte Russischkenntnisse. Basierend darauf schätzten Forschende für 2020, dass ungefähr 2,2 Millionen Erwachsene mit postsowjetischem Migrationshintergrund Russisch als Muttersprache oder fließend sprechen. Hinzu komme eine unbekannte Anzahl von Kindern und Jugendlichen, die Russisch sprechen; manche in Deutschland geborenen Nachkommen postsowjetischer Migrant*innen lernen die Sprache nicht von ihren Eltern.Quelle
Mehr zum Thema im Artikel von 2020.
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