Die Debatten über das N-Wort und andere Begriffe zeigen, wie emotional das Thema Rassismus in Deutschland besetzt ist. Und sie zeigen laut einigen Rassismusforscher*innen, wer in der Gesellschaft welche Privilegien besitzt, sprich: wessen Meinung vorrangig berücksichtigt wird. Denn nicht selten wird über die Diskriminierung "Schwarzer Menschen" diskutiert, ohne dass sie selbst zu Wort kommen.
Die "kritische Weißseinsforschung" nimmt sich dessen an: Sie will auf Hierarchien und solche Privilegien aufmerksam machen – zum Beispiel auf die Möglichkeit, ein rassistisches Wort im Kinderbuch beizubehalten. Solche Sonderrechte – bewusst, aber oft auch unbewusst wahrgenommen – sollen hinterfragt werden. Die Professorin für Soziale Arbeit und Menschenrechte Nivedita Prasad erklärt, dass nur so eine Veränderung im Umgang mit Rassismus bewirkt werden könne.
Critical Whiteness kehrt den Fokus um: Er stellt "Weiße Menschen" in den Vordergrund, ganz im Gegenteil zur gängigen Rassismusforschung, in der "Betroffene" in den Blick genommen werden. Hier wird in der Regel untersucht, wie und warum Gruppen ausgegrenzt werden.
Seit rund zehn Jahren versuchen Wissenschaftler und Aktivisten den Critical Whiteness-Ansatz in Deutschland zu etablieren. Er entstand in den 1960er Jahren in den USA infolge der Bewegungen gegen die "Rassentrennung", die Schwarze Menschen durch zahlreiche Gesetze diskriminierte. Die afroamerikanische Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison legte mit ihrer Essaysammlung die Grundlage für die "Critical Whiteness Studies". Sie forderte dazu auf, die Menschen in den Blick zu nehmen, die rassistische Hierarchien erzeugen oder "Andere" ausgrenzen. Zuvor listete die Erziehungswissenschaftlerin Peggy McIntosh Privilegien auf, die Weiße Menschen alltäglich begleiten wie ein "unsichtbarer Rucksack".
Das Ziel: "Weiße Räume" sichtbar machen
Grundsätzlich sollten sich Privilegierte darüber bewusst werden, dass auch ihre Hautfarbe nicht unsichtbar ist, sondern ebenso Auswirkungen auf die Lebenssituation hat wie bei "People of Colour". Mit einem grundlegenden Unterschied: Die einen werden wegen ihres Aussehens oder ihrer vermeintlichen ethnischen Zugehörigkeit diskriminiert, während die anderen Privilegien erfahren.
Eine weitere Unterscheidung: People of Colour müssen sich mit Rassismus auseinandersetzen, ob sie wollen oder nicht. Nicht nur im Alltag, auch von Institutionen können sie strukturelle Benachteiligungen erfahren: zum Beispiel durch schwierigere Bedingungen in Schulen oder Behörden, bei Bewerbungsverfahren sowie Rasterfahndungen oder "racial profiling". Vertreter der kritischen Weißseinsforschung wollen auf "Weiße Räume" hinweisen und den damit einhergehenden Sonderstatus hinterfragen. Nur so könne eine Gleichbehandlung für alle in der Gesellschaft entstehen.
Auf ungleiche Behandlungen machte beispielsweise Musikerin Noah Sow 2008 in ihrem Buch „Deutschland Schwarz Weiß“ aufmerksam, indem sie Beispiele von alltäglichem Rassismus nennt, etwa in der Werbung, im alltäglichen Sprachgebrauch oder bezogen auf Straßennamen, die immer noch nach Kolonialherren benannt sind.
"Deutschland ist ein Entwicklungsland in Sachen Rassismus"
Vertreter der Critical Whiteness kritisieren, dass "Weißsein" als deutsche Normalität gilt. An "anders" aussehende Menschen werde oft nicht gedacht. So werden People of Colour selten als Deusche wahrgenommen, da "Deutschsein" meist mit "Weißsein" gleichgesetzt wird. Ihnen wird eine bestimmte Identität zugeschrieben, unabhängig davon, wo sie sich selbst verorten.
Bislang nimmt die kritische Weißseinsforschung eine akademische Außenseiterrolle ein. Laut Politikwissenschaftler Kien Nghi Ha liegt das unter anderem daran, dass es einfacher ist, sich mit anderen zu beschäftigen als mit sich selbst. Eigene Privilegien in Frage zu stellen, sei unbequem: "Die Konfrontation damit löst Unwohlsein, Abwehr oder auch Wut aus", so Ha. Das zeigen beispielsweise emotionale Reaktionen aus der Gesellschaft, wenn Angehörige einer Minderheit eine Selbstbezeichnung durchzusetzen wollen, die sie als weniger diskriminierend empfinden, wie zum Beispiel "deutsche Sinti und Roma". Dies sei meist ein hart erkämpfter Prozess.
Insgesamt sei Deutschland ohnehin ein „Entwicklungsland“, wenn es um das Thema struktureller Rassismus gehe. Andere Einwanderungsländer seien da viel weiter, sagt Ha. Rassismus werde in Deutschland meist als extremistisches Randphänomen betrachtet und die Kolonialgeschichte überwiegend als Vorgeschichte des Nationalsozialismus betrachtet. Die Kolonialzeit müsse stärker aufgearbeitet werden, um heutige Rassismen reflektieren zu können, betonte auch Prof. Dr. Christian Geulen im Interview mit dem MEDIENDIENST.
Nivedita Prasad erklärt, dass Kritiker dem Konzept von Critical Whiteness vorwerfen, "essentialistisch" zu sein, da es die Unterteilung in Schwarze und Weiße Menschen scheinbar bestätigt. Doch anders könnten die strukturellen Privilegien und Rassismen kaum sichtbar gemacht werden, betont die Rassismusforscherin. Ein weiteres Problem stellt die Tatsache dar, dass nicht eindeutig geklärt werden kann, wer Weiß ist und wer nicht. Und: Menschen erleben nicht nur wegen ihrer Hautfarbe negative Zuschreibungen: Rassismusforscher wie Klaus J. Bade machen einen zunehmenden kulturellen Rassismus aus, der sich etwa gegen "die Muslime" oder "die Roma" richtet.
Dennoch sei es laut Prasad wichtig, dass sich die Gesellschaft in Rassismus-Debatten auch mit "Weißen Privilegien" auseinandersetzt und diese in Frage stellt. Das sei ein notweniger Schritt für das Leben in der deutschen Einwanderungsgesellschaft.
Von Teresa Garschagen
Sie sind Journalist*in und haben weitere Fragen oder suchen Fachleute zum Thema? Dann können Sie uns gern kontaktieren. Wir helfen schnell und unkompliziert. Unsere Texte und Grafiken können kostenfrei unter den Regeln der Creative Commons und unserer Namensnennung verwendet werden. Dies gilt nicht für Bilder und Fotos, die wir von Dritten erworben haben.