Vor 50 Jahren, am 23. November 1973, stoppte die Bundesrepublik die Anwerbung von "Gastarbeiter*innen" aus dem Ausland. "Die Anwerbung beruhte auf dem Prinzip der Nicht-Integration", sagt Sozialforscher Eric Seils im Interview. Bis heute beziehen ehemalige Gastarbeiter*innen weniger Rente und haben ein deutlich höheres Armutsrisiko. Um ihre Lebensleistung trotzdem zu würdigen, beschloss die Bundesregierung dieses Jahr, ihnen wenigstens die Einbürgerung zu erleichtern.Quelle
Wie viel weniger Rente bekommen Gastarbeiter*innen?
Ehemalige Gastarbeiter*innen erhalten im Schnitt etwa 280 Euro weniger Rente als Deutsche: 834 Euro im Vergleich zu 1.111 Euro pro Monat, so eine Sonderauswertung der Deutschen Rentenversicherung für den Mediendienst für das Jahr 2022. Besonders betroffen sind Frauen, die inzwischen fast zwei Drittel der Rentenempfänger*innen ausmachen. Ihre Rente liegt etwa ein Drittel unter der von deutschen Rentenempfängerinnen (661 Euro im Vergleich zu 899 Euro).Quelle
Viele Gastarbeiter*innen sind inzwischen verstorben. Neben den 16,5 Millionen Renten-Empfänger*innen mit deutscher Staatsbürgerschaft gibt es rund 360.000 Rentner*innen aus ehemaligen Anwerbestaaten. Bei einem großen Teil davon dürfte es sich um ehemalige Gastarbeiter*innen handeln. Es sind aber auch Personen enthalten, die später zum Arbeiten nach Deutschland kamen. Zum Vergleich: Während der Anwerbungszeit stieg die Zahl der Ausländer*innen in Deutschland um etwa 3,2 Millionen, darunter waren viele Frauen und Kinder. Die ehemaligen "Vertragsarbeiter*innen" in der DDR gingen bei der Rente meistens leer aus.Quelle
Es gebe mehrere Gründe für die niedrigeren Renten der ehemalige Gastarbeiter*innen, sagt der Sozialforscher Eric Seils im Interview. Sie hätten im Schnitt weniger als ihre deutschen Kollegen verdient. Am Anfang hätten sie die niedrigeren Löhne noch durch Überstunden und Zulagen für Schwerstarbeit kompensiert. Später, während der Ölkrise in den 70ern, hätten sie aber als Randarbeiter in den Fabriken als erste ihre Jobs verloren. "Die Gastarbeiter bekamen keine Sprachkurse, keine Integrationsangebote", so Seils. Der Staat muss sie deshalb heute über die Grundsicherung im Alter unterstützen. "Das ist sicher keine nachhaltige Integrationspolitik."
Der Anlass: "Anwerbestopp" 1973
Vor genau 50 Jahren stoppte die Bundesrepublik die Anwerbung von „Gastarbeiter*innen" aus dem Ausland. Am 23. November 1973 verschickte Bundesarbeitsminister Arendt die Anweisung "ab sofort die Vermittlung ausländischer Arbeitnehmer einzustellen" – das war der sogenannte "Anwerbestopp". Es kamen trotzdem weiter Menschen, obwohl die Bundesrepublik nur Arbeiter*innen gerufen hatte. Zwar kehrten zum Beispiel viele Italiener*innen nach Italien zurück. Die Zahl der Menschen aus der Türkei in Deutschland stieg aber weiter. Ein Grund: Viele türkische Gastarbeiter*innen holten ihre Familien nach.
Der MEDIENDIENST hat die wichtigsten Fragen und Antworten zur Anwerbung von Gastarbeiter*innen aus dem Ausland zwischen 1955 und 1973 zusammengestellt (bitte auf die Fragen klicken):
Wie ist die Situation von ehemaligen Gastarbeiter*innen heute?
Gastarbeiter*innen sind häufig von Altersarmut betroffen. Laut Mikrozesus 2021 liegt die Armutsgefährdungsquote bei Rentner*innen aus Gastarbeiterstaaten, die selbst zugewandert sind, bei 36,6 Prozent – bei Rentner*innen ohne Migrationshintergrund bei 15,4 Prozent. Eine Untersuchung von 2014 zeigte: Türkische Rentner in Deutschland bekamen im Schnitt rund 370 Euro weniger Altersrente als deutsche Rentner.Quelle
Viele beziehen also eine niedrige oder auch keine Rente. Deshalb müssen einige ehemalige Gastarbeiter*innen Sozialleistungen im Alter beziehen. Besonders stark von Altersarmut sind Frauen betroffen.Quelle
Viele ehemalige Gastarbeiter sind in ihre Herkunftsländer zurückgekehrt, auch für die Rente, oder pendeln zwischen dem Herkunftsland und Deutschland. Dafür benötigen sie Ressourcen und einen guten Gesundheitszustand. Eine Rolle bei der Entscheidung zu pendeln kann einer Studie der Goethe Universität in Frankfurt zufolge aber auch spielen, dass etwa die Lebenshaltungskosten in der Türkei deutlich niedriger als in Deutschland sind. Quelle
Mit dem neuen Staatsangehörigkeitsgesetz, das das Bundeskabinett beschlossen hat und das noch vom Bundestag verabschiedet werden muss, soll Gastarbeiter*innen ermöglicht werden, sich leichter einbürgern zu lassen. Eine wichtige Änderung für sie ist, dass sie keine schriftlichen Sprachnachweise auf B1-Niveau erbringen müssen. Stattdessen soll es ausreichen, wenn sie sich mündlich "ohne nennenswerte Probleme im Alltagsleben" auf Deutsch verständigen können. Damit soll ihre Lebensleistung gewürdigt und berücksichtigt werden, dass sie damals keine Sprachkurse erhielten. Auch die Verpflichtung zu einem Einbürgerungstest entfällt. Diese Regelung soll auch für Vertragsarbeiter*innen aus der ehemaligen DDR gelten.
Warum sind Gastarbeiter*innen stärker von Altersarmut betroffen?
Viele "Gastarbeiter*innen" verdienten weniger als ihre deutschen Kolleg*innen. Einige verfügten über keinen Schulabschluss, es gab wenige Weiterbildungsmöglichkeiten oder Angebote, um ihre Deutschkenntnisse zu verbessern. Eine Rolle spielten auch Diskriminierungserfahrungen bei der Arbeitsplatzsuche, wordurch sie oft in schlechter bezahlten Tätigkeiten angestellt waren.Quelle
Zudem konnten sie weniger Erwerbsjahre für die Rentenansprüche ansammeln. Das liegt zum einen daran, dass einige schon deutlich älter waren, als sie ihren ersten Job in Deutschland angetreten haben. Zum anderen waren Gastarbeiter*innen stärker vom Abbau von Arbeitsplätzen in den 1970er und 1980er Jahren betroffen und wurden zwischenzeitlich arbeitslos. Viele übten körperlich schwere Arbeit aus und sind dadurch in Frührente gegangen. All das wirkt sich heute auch auf ihr Rentenniveau aus.Quelle
Eine Rolle spielt dabei auch Immobilienbesitz: Rentner*innen mit Migrationshintergrund verfügen deutlich seltener über ein Eigenheim. Sie müssen deshalb im Schnitt mehr für die Miete ausgeben.Quelle
Was war die Anwerbung? Wie viele Menschen kamen?
Ab Mitte der Fünfzigerjahre schloss die Bundesrepublik "Anwerbeabkommen" mit mehreren Staaten. Das Ziel: Arbeitskräfte aus dem Ausland sollten vorübergehende Engpässe im beginnenden Wirtschaftsboom überbrücken. Die Initiative für die Abkommen ging meist von den "Anwerbestaaten" aus, die sich davon Devisen versprachen und eine Entlastung der eigenen Arbeitsmärkte.Quelle
Die Bundesrepublik schloss Abkommen zum Beispiel mit Italien (1955), Griechenland (1960), Spanien (1960) oder Portugal (1964). Das zahlenmäßig bedeutsamste Abkommen wurde am 30. Oktober 1961 mit der Türkei geschlossen.Quelle
Durch die Abkommen kamen sehr viele ausländische Menschen nach Deutschland. Die meisten verließen das Land später wieder. Aber ein Teil blieb auch hier. Die Zahl der Ausländer*innen erhöhte sich von rund 688.000 auf 3,9 Millionen. Und es veränderte sich ihre Zusammensetzung: Während Anfang der 60er Jahre vor allem italienische Eingewanderte in Deutschland lebten, nahm ab 1961 die Zahl der türkischen "Gastarbeiter*innen" – und später auch die Zahl der Eingewanderten aus dem ehemaligen Jugoslawien – stark zu.Quelle
Exkurs: Vertragsarbeiter*innen in der DDR
Auch die DDR warb Arbeitskräfte aus anderen Staaten an: 1989 befanden sich rund 94.000 sogenannte Vertragsarbeiter*innen in der DDR, die meisten kamen aus Vietnam, aber auch aus Mosambik und Kuba. Mehr dazu in unserem Artikel.
Wie haben Zeitzeug*innen die Anwerbung erlebt?
Sevim Basalan, ehemalige „Gastarbeiterin" bei Ford: „Ich kam 1969 nach Deutschland. [...] Ab 1970 [arbeitete ich] dann bei Ford in Köln in der Polsterei. Bei Ford arbeiteten damals fast 8.000 türkische Arbeitskräfte. Einen Sprachkurs gab es damals nicht. Beim Einkaufen haben wir uns mit Händen und Füßen verständigt. Mein Bruder war bereits in Deutschland. Und als junge Frau wollte ich auch nach Deutschland, um hier besser zu verdienen. Ich habe meine Familie in der Türkei zurückgelassen und wollte in Deutschland eine neue Familie gründen. Und das habe ich gemacht. Ich habe drei „Kölsche Mädchen bekommen."Quelle
Coşkun Taş, Ex-Fußballer beim 1. FC Köln und ehemaliger „Gastarbeiter" bei Ford: „Ich kam 1959 nach Deutschland, also noch vor dem Anwerbeabkommen. Ich hatte als Fußballprofi unter anderem in der türkischen Nationalmannschaft gespielt. [...] Am [Kölner] Hauptbahnhof angekommen, rief ich beim 1. FC Köln an und sagte, dass ich da sei. Die waren überrascht. Dann holte mich die Frau des Vereinspräsidenten vom Bahnhof ab. Und dann spielte ich fast zwei Jahre lang für den 1. FC Köln. In der Endrunde um die Meisterschaft 1960 schoss ich drei Tore. Aber im Finale durfte ich nicht spielen. 1962 fing ich dann bei Ford an als einer der ersten türkischen Gastarbeiter. [...] 1993 ging ich nach 31 Jahren bei Ford in Rente."Quelle
Jorge La Guardia, ehemaliger „Gastarbeiter" bei Hanomag: „Eine hannoversche Autofabrik, Hanomag, hat in Barcelona junge Menschen rekrutiert. [...] In ganz Spanien [...] haben sie nach Arbeitskräften gesucht. [...] Die brauchten Menschen [...] und dann haben wir uns gemeldet in einem Büro. Eine Schlage wie im Fußballstadion."Quelle Ich wollte die Welt außer Spanien kennenlernen und ich wusste gar nicht, was passieren würde. Ich wollte gleich danach wieder zurück, denn es war für uns ein großer Schock am Anfang. [...] Klima, Sprache, Gewohnheiten. Tausend Dinge waren für uns fremd. [...] In den Bussen von Wettbergen bis zu Hanomag morgens früh haben wir zu laut gesprochen. [...] Da haben die Leute geschimpft. [...] Da haben wir gemerkt, dass diese Kultur sehr anders war. Am Anfang. Nachher mit der Zeit war es für mich eine große Überraschung, dass Deutschland und Spanien nicht so verschieden sind. [...]"Quelle
Was war der Anwerbestopp 1973?
Nach dem Wirtschaftswunder der 50er und Anfang der 60er Jahre stagnierte die deutsche Wirtschaft zwischen 1966 und 1967. Die Zahl der beschäftigten Zugewanderten ging zurück. Etwa eine halbe Million Ausländer*innen verließen 1967 die Bundesrepublik. 1973 beschloss die Bundesregierung den "Anwerbestopp" – das war der Endpunkt einer längerfristigen Abkehr von der Anwerbepolitik. Außerdem spielte die aufziehende Öl- und Energiekrise eine Rolle.
Die Zahl der in den Bundesrepublik lebenden Ausländer*innen blieb dennoch bis zum Ende der 1970er ungefähr bei rund 3,9 Millionen Menschen. Viele "Gastarbeiter*innen" ließen ihre Familien nachziehen. 1984 führte die Bundesregierung "Rückkehrförderungen" für ausländische Arbeiter*innen ein, um sie zur Ausreise zu motivieren. Es wird geschätzt, dass rund 150.000 ausländische Arbeitnehmer*innen dabei die Bundesrepublik verlassen haben.Quelle
Mehr zum Thema gibt es auf unserer E-Learning-Plattform im kostenlosen Kurs "Geschichte der Migration nach Deutschland" mit vielen Zahlen, Fakten und Videos. Darin geht es unter anderem um die Frage, wie sich Deutschland durch die Gastarbeiter*innen verändert hat. Zum Kurs
Unter anderem enthalten ist eine Einschätzung des Historikers Prof. Dr. Jochen Oltmer:
Wichtige Quellen
> DeZIM (2022): "Alter(n) und Migration in Deutschland", Link
> WSI-Report (2014): Die Gastarbeiter – Geschichte und aktuelle soziale Lage, Link
> BIM (2017): "Armutsgefährdung bei Personen mit Migrationshintergrund", Link
Von Carsten Wolf, Andrea Pürckhauer, Miriam Sachs und Fabio Ghelli
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