In Deutschland gilt die amtliche Statistik: Fünf Prozent der Bevölkerung sind Muslime. Diese Berechnung geht zurück auf eine Befragung von Menschen aus mehrheitlich muslimischen Ländern von 2008. Beim Zensus 2011, der ersten repräsentativen Volksbefragung seit 1987, fallen die Ergebnisse zwar regional sehr unterschiedlich aus. So haben in Baden-Württemberg tatsächlich 5,3 Prozent der Bevölkerung in der freiwilligen Abfrage angegeben, dem Islam anzugehören. Doch bundesweit taten dies nur 1,9 Prozent der Bevölkerung. Diese Zahl wirft mehr Fragen auf als sie beantwortet.
Lagen etwa die bisherigen Hochrechnungen so stark daneben? Oder hat sich die Anzahl der Muslime dramatisch verringert? Es gibt noch weitere mögliche Erklärungen: Vielleicht wollten besonders viele Muslime dazu aus verschiedenen Gründen keine Angaben machen. Oder sie waren nicht bereit, sich einer der drei vorgegebenen Gruppen "sunnitischer, schiitischer oder alevitischer Islam" zuzuordnen. Oder die Frage war unklar und einige Muslime haben sich unter Punkt 7 ("Welcher Religionsgesellschaft gehören Sie an?") in Unkenntnis des Religionsrechts als "sonstige öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaft" definiert.
Der Zensusfragebogen war tatsächlich recht kompliziert. Die richtige Antwort für Buddhisten, Hindus oder Muslime auf Frage 7 müsste lauten: "Keiner öffentlich-rechtlichen Religionsgesellschaft". Im Anschluss wäre dann – im Gegensatz zu allen anderen Fragen – auf freiwilliger Basis die Frage nach dem Bekenntnis zu einer Weltanschauung oder Religion (Frage 8) zu beantworten, während Mitglieder einer Körperschaft des öffentlichen Rechts gleich mit Frage 9 weitermachen sollten.
Nicht beantwortet wurde Frage 8 von insgesamt 17,4 Prozent der Zensusteilnehmer. Weitere Ergebnisse: Lediglich 1,9 Prozent gaben hier an, sunnitische, schiitische oder alevitische Muslime zu sein. Hinzu kommen: 0,1 Prozent Juden, 0,2 Prozent Buddhisten, 0,1 Prozent Hindus und 3,0 Prozent unter "sonstige". 10,5 Prozent der Bevölkerung erklärten zudem, keiner Glaubensrichtung anzugehören. Der Präsident des Statistischen Bundesamts unterstrich in seinem Statement, dass hier "der Zensus 2011 keine verlässlichen Ergebnisse zu diesen Religionen in Deutschland bereitstellen kann".
Wenn das eigene Religionsverständnis abgefragt wird
Um die Anzahl von Muslimen in Deutschland zu untersuchen, wurden bisher meist sekundäre Erhebungen bemüht, die das Herkunftsland als Indikator heranzogen. Die freie Selbstdefinition von Individuen, wie im Zensus 2011 oder der 2009 publizierten BAMF-Studie "Muslimisches Leben in Deutschland" (MLD), eröffnet den Blick für das Selbstverständnis von Muslimen. Die Entscheidung über die Religionszugehörigkeit wird dabei dem Individuum überlassen und nicht durch Verwaltungsbeamte, Wissenschaftler oder eine religiöse Autorität festgelegt.
Über die Selbstdefinition werden auch nicht oder unkonventionell praktizierende Muslime mitgezählt, sofern sie sich im Islam zu Hause oder der muslimischen Kultur verbunden fühlen. Die Erfassung des Muslimseins auf Basis der Selbstdefinition fragt eine subjektive Perspektive ab, die sich ändern kann. Im Gegensatz zu Ausländerstatus, Geschlecht oder der Altersgruppe wird die Bedeutung der erfragten Kategorie allein von den Befragten bestimmt. Daher ist sie eine für Vergleiche äußerst instabile Kategorie.
Mit dem Bekenntnis ist also noch längst nicht klar, was das für sich beanspruchte Muslimsein für eine Person bedeutet. Unter anderen Bedingungen, in einer anderen Befragung oder in einer anderen Lebenssituation könnte die Antwort anders lauten. So kann es unterschiedliche Gründe dafür geben, dass die Religionszugehörigkeit nicht angegeben wird: etwa weil die Frage missverständlich gestellt ist, aus Angst vor Repressalien oder aus einem strategischen Interesse, weil man als religiöse Minderheit unerkannt bleiben will.
Muslim, Sunnit, Schiit oder Alevit?
Da die Erfassung der Bevölkerung muslimischen Glaubens unter anderem für konkrete (bildungs-)politische Zwecke herangezogen wird, erfragte die MLD-Studie erstmals explizit die Zugehörigkeit zu einzelnen Religionsrichtungen im Islam. Auch im Zensus 2011 wurden diese Kategorien erhoben. Vor allem in der Islamwissenschaft wird dieses Ordnungsprinzip als bedeutsam bewertet, doch es wird nicht von allen Muslimen durchweg bejaht.
So gibt es zum einen Bemühungen, derartige Unterschiede in der Institutionalisierung des Islams zu überwinden oder zumindest zurückzustellen, zum Beispiel durch bundesweite Dachverbände und regionale Moscheezusammenschlüsse im Sinne einer gemeinsamen Interessenvertretung. Zum anderen treten globale Bewegungen der religiösen Unterteilung entgegen, weil sie sie als Mittel zur Spaltung der Muslime verstehen. Gleichzeitig ist eine politische Instrumentalisierung und Mobilisierung religiöser Strömungen zu erkennen, etwa in Konflikten im Irak, Syrien, der Türkei oder in Pakistan.
Die vorliegenden Befragungen gehen zumeist auf die größten in Deutschland vertretenen Gruppen (Sunniten, Schiiten, Aleviten) ein, die MLD-Studie erfragt darüber hinaus weitere Untergruppen (Ahmadi, Sufi/Mystiker, Ibadit, Sonstige), die sich allerdings zum Teil überschneiden. So können Muslime einer sich als sunnitisch oder schiitisch verstehenden Sufigemeinschaft angehören oder einer, die derartige Unterschiede rundweg zurückweist.
Im ersten Religionsmonitor der Bertelsmann Stiftung von 2008 wurden rund 2.000 Muslime in Deutschland befragt. Insgesamt 9 Prozent sahen sich der schiitischen, 65 Prozent der sunnitischen und 8 Prozent der alevitischen Glaubensrichtung zugehörig und ein bemerkenswerter Anteil von 19 Prozent aller Befragten ordnete sich keiner der zur Auswahl gegebenen Glaubensrichtungen zu ("andere Glaubensrichtung", 11 Prozent) oder machte keine Angabe ("weiß nicht", 8 Prozent).
Die meisten Umfragen (so z.B. die Studie „Muslimisches Leben in Deutschland“) geben keine Auskunft über die Anzahl der Nichtangaben und berechnen die Anteile auf der Grundlage der als gültig gewerteten, also den Erwartungen der Fragenden entsprechenden Antworten. Die hohe Zahl derjenigen, die im Religionsmonitor angaben, anderen Glaubensrichtungen anzugehören, oder nicht zu wissen, welcher religiösen Strömung sie angehören, machen deutlich, wie problematisch die Kategorisierung als schiitischer oder sunnitischer Muslim aus Sicht der Befragten ist. Daher stellt sich die Frage, ob derartige Einordnungen noch sinnvoll sind, wenn sie doch nicht die Vergemeinschaftung von Muslimen widerspiegeln. Wie im Religionsmonitor ist auch beim Zensus 2011 der hohe Anteil derer, die ihre Antwort verweigern, äußerst aussagekräftig.
Fazit: Ein schwieriges und dennoch das beste Kriterium
Vom praktizierenden Mitglied eines Moscheeverbands bis zur areligiösen Aktivistin gegen Muslimfeindlichkeit können sich sehr verschiedene Personen als Muslime bezeichnen. Ihr Bekenntnis steht für unterschiedliche Religionsverständnisse und kann von Mediendebatten und gesellschaftlichen Veränderungen beeinflusst werden: Je stärker die Präsenz der Islamdebatte in Medien und Politik, desto diffuser wird, wofür das Muslimsein steht.
Ein anderes Problem der vergangenen Jahre ist die Fixierung auf die Kategorie Muslim, die von eigentlichen Problemfeldern und Lösungsansätzen ablenkt. Nicht nur sind die vorliegenden Erhebungen und Hochrechnungen ungenau und mit Vorsicht zu genießen. Auch sollte beim Hantieren mit Statistiken zu Muslimen beachtet werden, in welchem Kontext die Summierung von Muslimen – seien sie nun gläubig, praktizierend oder nicht – sinnvoll ist. Wer Zahlenangaben zu Muslimen macht, sollte sich bewusst sein, dass die Kategorie "Muslim" längst nicht so klar ist wie in aktuellen Debatten von vielen gesellschaftlichen Akteuren angenommen.
Die Selbstdefinition zum Ausgangspunkt für die Erhebung der Muslime in Deutschland zu nehmen, hat sich in der Praxis als schwieriges Kriterium herausgestellt. Doch verglichen mit Schätzungen auf Grundlage von Einwanderungs- und Einbürgerungsstatistiken gibt sie besser Auskunft darüber, wer und wie viele Personen sich als Muslime verstehen. Zwar stellt neben methodischen Herausforderungen auch die wachsende Verweigerung von Antworten und die Instabilität der Kategorie Muslim ein Problem dar. Doch Politik, Verwaltung und Interessenvertreter benötigen Angaben über die Anzahl von Muslimen, zum Beispiel um den zukünftigen Bedarf an islamischem Religionsunterricht, Friedhofsplätzen oder ähnlichem berechnen zu können. Die Erhebungen können also durchaus auch im Sinne der Befragten sein.
Dr. Riem Spielhaus ist Islamwissenschaftlerin am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa (EZIRE). Sie war involviert in eine Arbeitsgruppe der Deutschen Islamkonferenz und des Nationalen Integrationsgipfels. 2011 hat sie das Buch "Wer ist hier Muslim?" veröffentlicht, das sich damit beschäftigt, wie aus Migranten in der öffentlichen Wahrnehmung Muslime wurden. Für den Berliner Senat hat sie 2006 die Publikation "Islamisches Gemeindeleben in Berlin" verfasst.
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