Bislang galt: Rund fünf Prozent der Bevölkerung sind Muslime. Doch beim Zensus 2011 gaben nur 1,9 Prozent der Bevölkerung gegenüber dem Staat freiwillig an, muslimischen Glaubens zu sein. Diese Zahl wirft mehr Fragen auf, als sie beantwortet: Hat sich die Anzahl der Muslime dramatisch verringert? Wollten viele keine Angaben machen? Oder wurde ungeschickt gefragt und einige haben sich bei der Frage nach „öffentlich-rechtlicher Religionsgesellschaft" fälschlich unter "sonstige" eingeordnet? Die richtige Antwort für Muslime auf Frage 7 müsste lauten: "Keine öffentlich-rechtliche Religionsgesellschaft".
Erst eine detaillierte Auswertung der Ergebnisse durch die verantwortlichen Statistiker soll mehr Licht ins Dunkel bringen. Wann sie vorliegen wird, kann das Statistische Bundesamt aber noch nicht sagen. Bis dahin sind Zensus-Ergebnisse in diesem Punkt "nicht aussagekräftig". Es gelten also weiterhin die bisherigen statistischen Annahmen über Muslime.
Ein Gutachten der Islamwissenschaftlerin Riem Spielhaus gibt einen Überblick über die bisherigen Untersuchungen zur Anzahl der Muslime und hinterfragt ihre Genauigkeit. Ergebnis:
- Seit 2000 gab es vier Schätzungen und Hochrechnungen zum Thema, die sich alle nur auf bestimmte (ehemalige) Nationalitäten fokussieren. In den Berechnungen berücksichtigt wurden anfangs nur Menschen aus mehrheitlich muslimischen Ländern und später auch aus Ländern mit „relevantem Anteil muslimischer Bevölkerung“. Die Zahl stieg somit von 2,8 bis 3,2 Millionen in 2000 auf 3,8 bis 4,3 Millionen in 2009. Ausschlaggebend für Unterschiede waren nicht reelle Veränderungen in der Anzahl der Muslime, sondern jeweils neue Erhebungsmethoden. Über die tatsächliche Entwicklung können wir keine Aussagen treffen.
- In Politik, Wissenschaft und Medien wird in der Regel von "rund vier Millionen Muslimen" gesprochen. Die Zahl basiert auf einer Umfrage im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz von 2009 und einer anschließenden Hochrechnung auf die entsprechende Bevölkerungzahl. Bei der Befragung wurden jedoch lediglich Menschen aus Ländern mit relevanter muslimischer Bevölkerung befragt, nicht der Querschnitt der Bevölkerung.
- Im Ergebnis gab eine signifikante Zahl von Migranten aus mehrheitlich muslimischen Ländern an, anderen Religionen oder keiner Glaubensgruppe anzugehören. Nur 54 Prozent der Befragten bezeichneten sich als „Muslim“.
- Zum Islam Konvertierte und deren Nachkommen sind in die bisherigen Hochrechnungen nicht einbezogen. In Deutschland werden Muslime also automatisch mit Migrationshintergrund gleichgesetzt.
- Muslime mit europäischer Staatsangehörigkeit oder aus nicht muslimisch geprägten Herkunftsländern wurden ausgeklammert. Die Forschung weist jedoch laut Gutachten darauf hin, dass die innereuropäische Migration von Muslimen relevant sein könnte.
- Ein signifikanter Anteil der Befragten, die sich laut Studie durchaus zum Islam bekannten, charakterisierte sich als "nicht gläubig" oder "eher nicht gläubig". Demnach wären rund 14 Prozent der 3,8 bis 4,3 Millionen Muslime nicht gläubige Muslime oder anders gesagt, spielt der Glaube für sie keine große Rolle in ihrem Leben.
Fazit: Würde man die Zahl der "eher nicht" gläubigen und "gar nicht" gläubigen Muslime innerhalb der verwendeten Daten hochrechnen, würde die Anzahl der Muslime in Deutschland sinken, die eine Vertretung durch islamische Verbände anstreben oder als potenzielle Nutzer religiöser Dienstleistungen in Frage kämen.
Bisher gibt es keine quantitativen Untersuchungen, die eine Schätzung zulassen, wie viele Musliminnen und Muslime aus europäischen Ländern nach Deutschland gekommen sind. Auch dieser Umstand macht deutlich: Wir wissen gar nicht genau, wie viele Muslime in Deutschland leben.
Vier Millionen Muslime ist ungenau - was nun?
Die derzeitigen Schätzungen zur Anzahl der Muslime in Deutschland in Frage zu stellen, ohne eine alternative Angabe zu bieten, ist nicht zielführend. Es besteht weiterhin eine große Nachfrage nach Daten und Fakten. Das wirft die Frage auf, wie Erhebungen aussehen müssen, in denen tatsächlich die Religionszugehörigkeit und nicht die Zugehörigkeit zu einer vermeintlichen islamischen-kulturellen Einwanderergruppe gezählt wird.
Laut Spielhaus gilt es zunächst zu überlegen, wer bei der Verwendung der Kategorie „Muslim“ gemeint ist. In Wissenschaft, Medien, Politik und Verwaltung müsse ein Bewusstsein dafür geschaffen werden, "dass diese Kategorie lediglich im Kontext religiöser oder identitärer Bezüge eine bedeutungsvolle Aussagekraft entfalten kann". Aussagen über Muslime stellvertretend für Aussagen über Einwanderer treffen zu wollen, ist somit nicht zielführend.
In diesem Zusammenhang sei es wichtig, zwischen Menschen mit „muslimischem Hintergrund“ und praktizierenden bzw. gläubigen Muslimen zu unterscheiden. Um in der Politik oder Verwaltungen über die Notwendigkeit von Religionsunterricht zu diskutieren oder den Vertretungsanspruch islamischer Verbände einordnen zu können, wäre eine aussagekräftige Schätzung praktizierender oder organisierter Muslime für aktuelle Debatten um den Islam in Deutschland "dringend notwendig".
Diese Zahl könnte etwa durch Zufallsstichproben mit dem Kriterium „Selbstdefinition als Muslim“ erhoben werden, die nicht an das Kriterium Herkunftsland geknüpft sind und kombiniert werden mit einer Befragung zum Selbstverständnis als Muslim.
Von Ferda Ataman, MDI
Riem Spielhaus ist Islamwissenschaftlerin am Erlanger Zentrum für Islam und Recht in Europa (EZIRE). Sie war involviert in eine Arbeitsgruppe der Deutschen Islamkonferenz und des Nationalen Integrationsgipfels. 2011 hat sie das Buch "Wer ist hier Muslim?" veröffentlicht, das sich damit beschäftigt, wie aus Migranten in der öffentlichen Wahrnehmung Muslime wurden. Für den Berliner Senat hat sie 2006 die Publikation "Islamisches Gemeindeleben in Berlin" verfasst.
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