Am 19. Dezember 2016 raste der islamistische Attentäter Anis Amri mit einem LKW in den Weihnachtsmarkt am Berliner Breitscheidplatz. Er tötete zwölf Menschen, ein weiteres Opfer erlag dieses Jahr seinen Verletzungen. Die politische Aufarbeitung in zwei Untersuchungsausschüssen hat gezeigt: Der Anschlag hätte verhindert werden können. Welche Konsequenzen haben Behörden aus den Fehlern gezogen? Der MEDIENDIENST hat eine Übersicht erstellt:
Die Sicherheitsbehörden
Die Sicherheitsbehörden haben im Fall Amri schlecht zusammengearbeitet, so die Vertreter*innen des Untersuchungsausschusses des Bundestages. Insbesondere Fehleinschätzungen, unklare Zuständigkeiten und fehlendes Personal hätten dazu geführt, dass Amri zwar als Gefährder bekannt war, aber nicht engmaschig beobachtet wurde.
Was sich geändert hat:
- Neues Bewertungstool zur Einstufung von Gefährdern: Die Polizeien der Länder oder das BKA schätzen ein, wie wahrscheinlich es ist, dass eine Person eine Gewalttat begeht. Seit 2017 nutzen sie dafür das Risikobewertungsinstrument RADAR-iTE, das vom BKA und der Universität Konstanz entwickelt wurde. Mit dem Tool können Behörden Personen erstmals bundesweit einheitlich bewerten. Und während zuvor die Ideologie oder Religiosität der Person im Vordergrund stand, versuchen Beamt*innen jetzt mithilfe von 73 Fragen die Persönlichkeit sowie das familiäre und soziale Umfeld der Person einzuschätzen. Etwa ob sie Kontakt zu gewalttätigen Extremist*innen hatte, Material zu terroristischen Aktivitäten heruntergeladen hat oder ob sie über Erfahrungen mit Waffen oder Sprengstoff verfügt.Quelle
- Reformen im Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum (GTAZ): Nach Einschätzung der Regierungsfraktionen wurde die Kooperation der Behörden im GTAZ gestärkt. Etwa mit der neu gegründeten "AG Risikomanagement". Dort finden sogenannte Fallkonferenzen statt, bei denen Bundesländer und Bundesbehörden Personen wie Amri bewerten, um ihre Gefährlichkeit einzuschätzen und konkrete Maßnahmen zu beschließen. Auch die Sitzungsprotokolle seien mittlerweile ausführlicher. Vorher ging aus ihnen oft nicht deutlich hervor, welche Behörde die Verantwortung für einen Auftrag übernommen hatte.Quelle
- Neues Anti-Terror-Zentrum in Berlin: Das LKA Berlin hat im Januar 2020 die neue Abteilung "Islamistischer Extremismus und Terrorismus" eingerichtet. Sie ist Teil des neuen Berliner Anti-Terror-Zentrums, das bis 2022 fertiggestellt werden soll. Unter einem Dach sollen die verschiedenen Abteilungen der Berliner Polzei besser zusammenarbeiten. Dass das LKA Berlin zu wenig Personal hatte und sich die Mitarbeitenden untereinander schlecht austauschten, war laut Berliner Untersuchungsausschuss ein zentraler Fehler im Fall Amri.Quelle
Den Oppositionsparteien FDP, Grüne und Linke gehen die Reformen in den Sicherheitsbehörden nicht weit genug. In ihrem gemeinsamen Sondervotum zum Untersuchungsausschuss des Bundestages fordern sie weitere Maßnahmen, etwa die Geheimdienste und ihre V-Leute enger zu kontrollieren.Quelle
Im Asylbereich
Bereits kurz nach dem Anschlag kündigte die damalige Bundesregierung Gesetzesverschärfungen im Asylrecht an. Ein Grund: Der Attentäter war nicht abgeschoben worden, obwohl sein Asylantrag längst abgelehnt worden war.Quelle
Was sich geändert hat:
- Abschiebehaft für Gefährder: Wenige Wochen nach dem Anschlag beschloss die damalige Regierung das "Gesetz zur besseren Durchsetzung der Ausreisepflicht". Der Gesetzesentwurf stammte noch aus der Zeit vor dem Anschlag. Seit Sommer 2017 können ausländische Gefährder einfacher in Abschiebehaft genommen werden. Zuvor musste sichergestellt werden, dass eine Abschiebung innerhalb von drei Monaten stattfinden wird. Amri war nicht in Abschiebehaft gekommen, weil Tunesien notwenige Papiere nicht ausstellen wollte und somit nicht klar war, wie lange er in Abschiebehaft sitzen würde.Quelle
- Mehr Überwachung von ausreisepflichtigen Personen: Durch eine Novellierung des BKA-Gesetzes vom Frühjahr 2017 können ausreisepflichtige Ausländer verpflichtet werden, eine elektronische Fußfessel zu tragen.Quelle
- Bundesweiter Datenabgleich im Asylverfahren: Amri hatte an verschiedenen Orten in Deutschland unter unterschiedlichen Identitäten Asylanträge gestellt. Das wurde zunächst nicht bemerkt, weil die Ausländerbehörden in den Ländern zu diesem Zeitpunkt teilweise noch keinen bundesweiten Datenabgleich machen konnten. Möglich wurde das erst mit der Einführung eines Kerndatensystems im Ausländerzentralregister. Das Gesetz dazu hatte der Bundestag bereits im Februar 2016 beschlossen, zum Zeitpunkt des Anschlages waren aber noch nicht alle Ausländerbehörden mit der nötigen Technik ausgestattet.Quelle
Menschenrechtsorganisationen und Oppositionsparteien kritisierten die Verschärfung des Asylrechts. Bei der Aufklärung gehe es vor allem um Behördenfehler im Zusammenhang mit dem Terroranschlag, erklärte etwa die Grüne-Bundestagsfraktion Anfang 2017 in einem Positionspapier. Die Asylrechtsverschärfung hätte das Attentat vom Breitscheidplatz nicht verhindert.Quelle
Für Opfer und Hinterbliebene
Der Umgang mit Opfern und Hinterbliebenen wurde nach dem Anschlag vielfach kritisiert. In einem offenen Brief warfen die Angehörigen der Todesopfer der Bundesregierung Untätigkeit vor, auch Hilfen waren nur schleppend angelaufen.Quelle
Was sich geändert hat:
- Anlaufstellen für Opfer: Als Reaktion auf den Anschlag am Breitscheidplatz hat der Bund eine zentrale Anlaufstelle für Terroropfer eingerichtet, die am Bundesjustizministerium angesiedelt ist. Als erstes Bundesland richtete Berlin Ende 2017 eine solche Stelle ein.Quelle
- Finanzhilfen für Terroropfer: Nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz erhielten die Verletzten eine Soforthilfe von je 5.000 Euro. Ehepartner, Elternteile und Kinder der Todesopfer bekamen jeweils 10.000 Euro, Geschwister 5.000 Euro. Das sei zu wenig, kritisierte der damalige Opferbeauftragte Kurt Beck. 2018 erhöhte die Bundesregierung die Härteleistungen, auch rückwirkend für die Betroffenen des Berliner Anschlags. Nächste Hinterbliebene erhalten seitdem 30.000 Euro, Geschwister 15.000 Euro.Quelle
- Gesetzliche Grundlage für psychologische Betreuung: Als erstes Bundesland hat Berlin im März 2021 ein Gesetz über die psychosoziale Notfallversorgung beschlossen. Damit soll die psychologische Betreuung von Notfallopfern, Angehörigen, Hinterbliebenden, und Zeug*innen verbessert werden.Quelle
Der Opferbeauftragte der Bundesregierung Edgar Franke (SPD) forderte in seinem Abschlussbericht zum Ende der Legislaturperiode, Opferhilfeeinrichtungen für Betroffene von Terroranschlägen künftig langfristig zu finanzieren. Er empfiehlt auch, Opferfonds für Terroropfer in den Bundesländern einzurichten.Quelle
Das Thema Islamismus-Prävention spielte im Fall Amri eine untergeordnete Rolle, weil sich der Täter mutmaßlich bereits in Italien radikalisiert hatte, nicht in Deutschland. Dennoch wurden Präventionsprogramme vielerorts ausgebaut. "Die aktuelle Herausforderung besteht darin, Präventionsarbeit zu verstetigen, etwa in Schulen und Jugendeinrichtungen", sagt der Islamwissenschaftler Götz Nordbruch.Quelle
Der Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien greift Forderungen auf, die nach dem Anschlag vom Breitscheidplatz erhoben wurden. So planen SPD, FDP und Grüne, den 11. März zum nationalen Gedenktag für die Opfer terroristischer Gewalt zu erklären.Quelle
Von Tomma Neveling
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