Für viele Menschen in Deutschland war es ein regelrechter Schock: Laut Sicherheitsbehörden sind rund 400 Personen aus Deutschland in den bewaffneten Konflikt nach Syrien gezogen. Doch wie kann es sein, dass junge Erwachsene aus Deutschland freiwillig in Krisengebiete reisen und sich gewaltbereiten Terrorgruppen anschließen? Was also macht radikale Strömungen für Jugendliche attraktiv? Und wie kann man dem entgegenwirken?
Der MEDIENDIENST hat gemeinsam mit der "Kreuzberger Iniative gegen Antisemitismus" zu einer Medien-Tour eingeladen, bei der diese und andere Fragen beantwortet wurden. Zur Einführung gab es allgemeine Informationen über den Salafismus, dem offenbar viele der Radikalen angehören. Ein Experte in diesem Bereich ist Götz Nordbruch, Islamwissenschaftler und Mitbegründer von "ufuq.de". Der Verein arbeitet mit Jugendlichen und beschäftigt sich unter anderem mit extremistischen Strömungen.
Salafisten besinnen sich demnach auf die „Altvorderen“ (Salaf) und orientieren sich an der Lebensweise der ersten Muslime. Sie haben eine dogmatische Interpretation des Koran und propagieren ihre rückwärtsgewandten Ansichten als den „wahren“ Islam. Gleichzeitig bietet die erzkonservative Strömung Antworten auf aktuelle Fragen: „Salafisten unterteilen die Welt in Gut und Böse, Richtig und Falsch", erklärt Nordbruch. Doch nicht alle agierten missionarisch oder seien gewaltbereit.
"Die Salafisten füllen eine Lücke"
Laut Nordbruch gehen Salafisten aktiv auf Jugendliche zu und orientieren sich dabei an deren Interessen. Vor allem soziale Netzwerke spielen hier eine wichtige Rolle. So folgen der Facebook-Seite des deutschen salafistischen Predigers Pierre Vogel über 60.000 Nutzer, obwohl der Verfassungsschutz keine 6.000 Salafisten zählt. „Die Salafisten füllen Lücken", erklärt Nordbruch, indem sie auf ganz alltägliche Fragen Antworten in deutscher Sprache bieten. "Wenn muslimische Jugendliche das Internet danach durchsuchen, ob Redbull für sie erlaubt ist, landen sie in den meisten Fällen auf salafistischen Seiten."
Erfahrungen mit antimuslimischem Rassismus oder Ausgrenzung machten die Jugendlichen ebenfalls anfällig für extremistische Ideologien. Das bestätigt auch Aycan Demirel, von der „Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus“ (KIgA): Das Bekenntnis zu salafistischen Werten könne auch Protest gegen Diskriminierung sein. "Radikale Islamisten bestärken häufig das Gefühl, Teil einer weltweiten Schicksalsgemeinschaft zu sein", so Demirel.
Zudem sei der Salafismus für Jugendliche attraktiv, die zuhause familiäre Probleme erleben oder in der Schule als Außenseiter gelten. Gerade für sie bieten die Salafisten und andere extremistische Strömungen Orientierung und vermeintlichen Halt.
Die Schüler wollen darüber reden
Auch die KIgA beschäftigt sich mit den Alltagsfragen der Jugendlichen. Die Initiative arbeitet seit rund zehn Jahren mit jungen Menschen innerhalb und außerhalb der Schule und hat neben pädagogischen Konzepten zum Thema Antisemitismus auch Konzepte zur Islamismus-Prävention entwickelt. „Wir wollen die Schüler zum eigenständigen Urteilen befähigen“, sagt Demirel. Konkret heißt das: Die Mitarbeiter führen Workshops mit Jugendlichen durch. Dabei sollen zum Beispiel alle Themen offen diskutiert werden, mit denen sie in sozialen Medien konfrontiert werden. Mit dabei sind junge Erwachsene aus Einwandererfamilien, die selbst zuvor an solchen Workshops teilgenommen haben und den Schülern als Vorbild dienen können.
„Der Bedarf, über die aktuellen Konflikte und Religion zu sprechen, ist sehr groß“, bestätigt Nalan Kılıç, Lehrerin an der Carl-von-Ossietzky-Gemeinschaftsschule in Berlin-Kreuzberg. Die Pädagogen wollen, dass die Schüler auch mit Experten jenseits des Lehrerzimmers über sensible Themen ins Gespräch kommen und kooperiert daher seit Jahren mit Partnern wie der KIgA.
Den Moscheen fehlt die Finanzierung
Moscheen sind Anlaufstellen für Gläubige und besitzen eine religiöse Autorität. Ihre Vertreter können in der Islamismus-Prävention eine wichtige Rolle spielen. Die Berliner Şehitlik-Moschee (Mitglied der DITIB) wird pro Tag von mehreren hundert Menschen besucht, erklärt der Gemeindevorsitzende Ender Çetin, und finanziert sich durch Spenden und Mitgliedsbeiträge. Was wird hier getan, um der Radikalisierung muslimischer Jugendlicher vorzubeugen?
„Eine umfassende Präventionsarbeit übersteigt schlichtweg unsere Kapazitäten“, sagt Çetin. Alle Aktivitäten, also auch die Jugend- und Präventionsarbeit, fänden ausschließlich in ehrenamtlichen Strukturen statt. Die Moscheen seien auf Kooperationen mit anderen Akteuren und finanzielle Unterstützung angewiesen.
BILDERGALERIE zur Medien-Tour am 15. Oktober
Was tun, wenn Jugendliche schon radikalisiert sind?
„Sind Jugendliche erst einmal radikalisiert, sind sie rationalen Argumenten nicht mehr zugänglich“, sagt Claudia Dantschke, Leiterin der Beratungsstelle „Hayat“, die Angehörigen von islamistisch radikalisierten Jugendlichen hilft. Sie sitzt in der "Gesellschaft Demokratische Kultur" (ZDK), die bislang für ihr Projekt "Exit-Deutschland" bekannt war, das Rechtsextremisten beim Ausstieg aus der Szene unterstützt hat. Die Fragen in der neuen Beratungsstelle ähneln sich: Wie waren die sozialen und familiären Umstände noch vor der Radikalisierung? Was findet der Jugendliche bei der radikalen Gruppe, was er vorher vermisst hat?
Laut Dantschke ist die Familie oft "Teil des Problems, aber auch Teil der Lösung". Wichtig sei herauszufinden, inwiefern eine gewaltbereite Radikalisierungsgefahr vorliegt. Gibt es eine politische Auseinandersetzung oder ist die Motivation nur religiös? Gemeinsam mit den Eltern und Angehörigen werden dann Strategien zur Deradikalisierung entwickelt.
Hayat ist Partner der bundesweiten „Beratungsstelle Radikalisierung“ des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF), die Beratungsanfragen an Hayat weiterleitet. Bei Claudia Dantschke und ihren Kollegen werden sie dann individuell betreut. Seit das Projekt 2012 gestartet ist, hat es nach eigenen Angaben 101 Familien beraten, davon seien noch 72 Fälle aktiv in Beratung. In elf Fällen sei es gelungen, stark ideologisierte Jugendliche durch die Beratung zu deradikalisieren.
Von Karim El-Helaifi
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