MEDIENDIENST: Zum dritten Mal haben Sie die Studie "Muslimisches Leben in Deutschland" durchgeführt. Was hat sich seit der letzten Erhebung vor fünf Jahren verändert?
Katrin Pfündel: Die Zahl der Muslime in Deutschland ist seit der letzten Hochrechnung für das Jahr 2015 gestiegen. Aktuell leben zwischen 5,3 und 5,6 Millionen muslimische Religionsangehörige mit Migrationshintergrund in Deutschland. 2015 waren es zwischen 4,4 und 4,7 Millionen. Der Anteil der Muslime an der Gesamtbevölkerung ist somit um ungefähr einen Prozentpunkt auf 6,4 bis 6,7 Prozent gestiegen. Und ihre Zusammensetzung ist vielfältiger geworden. Hinzugekommen sind vor allem Personen aus arabischsprachigen Ländern, darunter viele Geflüchtete.
Macht es sich in Ihren Studienergebnissen bemerkbar, dass viele Menschen erst seit kurzem in Deutschland sind? Etwa bei den Sprachkenntnissen der Befragten.
Katrin Pfündel: Muslime, die in Deutschland geboren sind, haben fast alle sehr gute Deutschkenntnisse. Aber auch zwei Drittel der Personen aus dem Nahen Osten attestieren sich gute oder sehr gute Sprachkenntnisse. Das ist bemerkenswert, weil sich viele von ihnen noch nicht lange in Deutschland aufhalten.
KATRIN PFÜNDEL ist Soziologin und forscht im Bereich quantitativ-empirische Integrations- und Migrationsforschung. DR. KERSTIN TANIS ist Volkswirtin und forscht unter anderem zur empirischen Migrations- und Arbeitsmarktökonomie, mit besonderem Fokus auf Regionen. Beide sind wissenschaftliche Mitarbeiterinnen im Forschungszentrum des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zum Thema "Integration und gesellschaftlicher Zusammenhalt".
Rund 80 Prozent der befragten Muslim*innen sind laut der Studie eher oder stark gläubig. Was heißt das in der Praxis?
Katrin Pfündel: Religiöse Regeln und Praktiken wie das Beten oder Fasten werden unterschiedlich eingehalten. Beispielsweise halten sich knapp 70 Prozent der Befragten an Speise- oder Getränkevorschriften, aber nur 24 Prozent besuchen einmal wöchentlich eine religiöse Veranstaltung. Frauen geben häufiger an, sich an religiöse Regeln zu halten. Und insgesamt nimmt die Gläubigkeit von der ersten Generation zur nächsten ab.
Sie schreiben, dass der Einfluss der Religion auf die Integration überschätzt wird. Was bedeutet das?
Kerstin Tanis: Es heißt häufig, dass Religion integrationshemmend wirke. Unsere Forschungsergebnisse bestätigen dies jedoch nicht, Personen mit unterschiedlicher Religionszugehörigkeit aus dem gleichen Herkunftsland schneiden bei der Integration sehr ähnlich ab. Wir haben vielmehr gesehen, dass Faktoren wie die Aufenthaltsdauer, Migrationsgründe oder die soziale Lage den Integrationsprozess weitaus stärker beeinflussen als die Religionszugehörigkeit. Wir stellen vor allem für selbst zugewanderte Personen aus einem muslimisch geprägten Herkunftsland fest, dass sie unabhängig von ihrer Religionszugehörigkeit oft niedrigere Schulabschlüsse oder seltener eine Berufsausbildung als Personen ohne Migrationshintergrund haben.
Wie erklären Sie sich das?
Kerstin Tanis: Dafür gibt es mehrere Gründe. Ein Beispiel: Geflüchtete müssen ihre Herkunftsländer oft sehr plötzlich verlassen und können zum Beispiel die Schule nicht abschließen. Und berufliche Ausbildungen, wie wir sie in Deutschland kennen, gibt es in vielen anderen Ländern nicht oder die Ausbildungen werden hier nicht anerkannt. Der Wille, eine Ausbildung zu absolvieren, lässt sich aber deutlich erkennen: Neun Prozent der Befragten befinden sich derzeit in der Ausbildung und 23 Prozent haben bereits eine absolviert. In der zweiten Generation haben sogar 41 Prozent eine Ausbildung abgeschlossen. Bei Deutschen ohne Migrationshintergrund sind es 45 Prozent. In Deutschland geborene Muslime holen also sehr schnell auf.
Der Großteil der Musliminnen in Deutschland trägt kein Kopftuch. Zum Teil, weil sie dadurch Nachteile befürchten. Wie schätzen Sie das ein?
Kerstin Tanis: Die meisten der befragten Musliminnen, die kein Kopftuch tragen, gaben an, dass sie das Kopftuch nicht zur Ausübung ihres Glaubens benötigen. Allerdings gab auch ein Drittel an, auf das Kopftuch unter anderem deswegen zu verzichten, weil sie Nachteile bei der Arbeit, Ausbildung oder in der Schule befürchten. Rund 13 Prozent verzichten ferner aus Angst vor Anfeindungen. Vor dem Hintergrund der freien Religionsausübung in Deutschland sollte dies zum Nachdenken anregen.
Zur Studie
Im Auftrag der Deutschen Islam Konferenz (DIK) hat das BAMF-Forschungszentrum zwischen Juli 2019 und März 2020 rund 5.200 Personen befragt. Darunter sind sowohl Zugewanderte aus insgesamt 23 muslimisch geprägten Herkunftsländern als auch deren in Deutschland geborene Nachkommen. Rund 600 deutsche Staatsangehörige ohne Migrationshintergrund wurden als Vergleichsgruppe interviewt. Im Rahmen der Studienreihe "Muslimisches Leben in Deutschland" wurde bereits 2008 ein Forschungsbericht zur Zahl der Muslim*innen und ihrem Leben in Deutschland vorgelegt. Für das Jahr 2015 erfolgte eine erneute Hochrechnung zur Zahl der Muslim*innen in Deutschland. Aufgrund einer Korrektur des Zensus im Jahr 2011, lässt sich die aktuelle Hochrechnung nur mit der von 2015 vergleichen.
Interview: Tomma Neveling
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