Mediendienst Integration: Mit welchen Anliegen kommen Einwanderer zu Ihnen in die Neuköllner Beratungsstelle?
Anna Schmitt: Die Bandbreite der Themen ist sehr groß. Heute war ich mit einem Mann bei einer Hausverwaltung und habe eine Wohnungsbewerbung abgegeben, dann habe ich eine Frau begleitet, die sich und ihre zwei Kinder bei den Behörden anmelden musste. Und zum Schluss habe ich zwei junge Slowaken beraten, die gerade eingereist sind und hier arbeiten möchten.
Wie schätzen Sie aus Ihrem Arbeitsalltag heraus die Debatte über Missbrauch von Sozialleistungen ein?
Für uns Sozialberater ist die Debatte über „Sozialmissbrauch“ irritierend. Es entsteht der Eindruck, als sei jeder Bezug von Sozialleistungen gleich ein Leistungsbetrug. Dabei handelt es sich in der Regel um EU-Bürger, die ihre Rechte wahrnehmen. Zu möglichem Betrug durch rumänische und bulgarische Staatsbürger sind meines Wissens dagegen lediglich 112 Verdachtsfälle bekannt.
Wenn Sie Einwanderern in Ihrer Beratungsstelle empfehlen, Sozialhilfe zu beantragen, um welche Leistungen handelt es sich?
In den allermeisten Fällen sind das ergänzende SGB II-Leistungen, die vom Jobcenter gewährt werden, weil das Einkommen nicht zum Leben reicht – also vor allem die Aufstockung mit Hartz IV für Erwerbstätige. Und in manchen Fällen stellen wir Nothilfe-Anträge bei den Bezirksämtern, etwa bei Schwangerschaft oder zur Krankenversorgung.
Kennen Sie Fälle von Leuten, die nach Deutschland kommen, weil sie von den Sozialleistungen gehört haben?
Gehört haben davon sicherlich viele, aber die Gründe, hierherzukommen, sind andere. Die Leute wissen, dass die deutsche Wirtschaft so stark ist, dass es hier noch Arbeitsplätze gibt. Und sie wollen arbeiten. Man muss auch wissen: Benachteiligte Gruppen wie Roma, gegen die sich der Vorwurf des Missbrauchs häufig richtet, haben kein Vertrauen in soziale Sicherungssysteme. Sie kennen das aus den Herkunftsländern in der Regel gar nicht, weil sie dort oft komplett von staatlicher Unterstützung ausgeschlossen sind. Die meisten wissen sehr genau, dass man auch hier nichts geschenkt bekommt.
Wie einfach können Einwanderer aus EU-Staaten staatliche Unterstützung, etwa vom Jobcenter erhalten?
Tatsächlich ist es äußerst schwer, überhaupt in den Leistungsbezug reinzukommen. Nehmen wir den SGB II-Antrag als Beispiel: Da gibt es erst einmal mehrere Seiten lange Listen, welche Dokumente die Leute einreichen müssen. Das Wichtigste ist die Anmeldung, ohne die geht nichts: Wer hier nicht gemeldet ist, kann keinen Arbeitsvertrag unterschreiben, keine Krankenversicherung abschließen, kein Kindergeld und keine Sozialhilfe beantragen. Doch schon dabei scheitert es bei manchen, zum Beispiel, weil sie noch keine Wohnung haben. Und selbst nach der Anmeldung ist nur der erste Schritt geschafft. Man muss dann eine Arbeit finden, die man auch nachweisen kann. Und das ist oft schwer.
Inwiefern?
Bei Selbstständigen erleben wir oft, dass die Auftraggeber keine Rechnungen oder sonstige Nachweise darüber wollen, dass die Person für sie arbeitet. Wenn die Behörden oder wir telefonisch bei Arbeitgebern nachfragen, leugnen manche die Zusammenarbeit. Sie haben offenbar Angst vor Kontrollen, bei denen herauskommen könnte, dass sie eigentlich Sozialabgaben für diese Person zahlen müssten. In solchen Fällen betrügt die Wirtschaft den Staat um Abgaben. Man könnte sagen: Hier findet der eigentliche Sozialbetrug statt.
Wie ist es bei EU-Bürgern, die hier noch keinen Job gefunden haben? Steht ihnen während der Arbeitssuche Unterstützung zu?
Das ist juristisch umstritten. Gesetzlich ist es so: Wenn jemand „allein zum Zweck der Arbeitssuche“ nach Deutschland kommt, kann sein Antrag auf Sozialhilfe abgelehnt werden. Das trifft auf die Wenigsten zu, denn meist gibt es mehrere Gründe für die Einreise: den Kindern eine bessere Bildung geben, mit dem Teil der Familie zusammenleben, der schon hier lebt und so weiter. Deshalb sehen wir es grundsätzlich kritisch, wenn Menschen nach diesem Kriterium von Sozialleistungen ausgeschlossen werden. In Berlin haben wir jedoch den Eindruck, dass die Jobcenter inzwischen fast alle Anträge von Osteuropäern mit dem Argument der Arbeitssuche ablehnen. Sogar wenn eine Gewerbeanmeldung, eine Steuernummer und Arbeitsnachweise vorliegen. Deshalb müssen wir in vielen Fällen vor das Sozialgericht ziehen, um Unterstützung für die Betroffenen zu erhalten.
Und wie ist dort die Aussicht auf Erfolg?
Das ist eine Art Lotto-Spiel: Manche Kammern sind europarechtskonform und sagen, Deutschland darf diese Menschen nicht pauschal von Sozialleistungen ausschließen. Andere lassen den Ausschluss zu, weil Deutschland sein Sozialsystem vor Belastung schützen müsse. Ähnliche Fälle werden also völlig unterschiedlich bewertet und das macht das Ganze sehr unberechenbar. Das geht vermutlich so lange weiter, bis der Europäische Gerichtshof darüber entscheidet.
Anna Schmitt hat Soziale Arbeit studiert und während eines einjährigen Rumänien-Aufenthalts Rumänisch gelernt. Sie arbeitet in Berlin als Beraterin und Dolmetscherin in einer sozialen Anlaufstelle, die der interkulturelle Jugendverband Amaro Foro vor allem für Einwanderer aus Rumänien und Bulgarien eingerichtet hat.
Interview: Ricarda Wiese
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