Was ist damals auf der Kölner Domplatte passiert? Und welche Lehren lassen sich daraus ziehen? Zu einem Pressegespräch hat der MEDIENDIENST Fachleute eingeladen: von der Kölner Polizei, aus der Wissenschaft, von Frauenberatungsstellen sowie einen Sozialarbeiter. Außerdem haben wir aktuelle Zahlen von Gerichten und der Polizei ausgewertet für eine vorläufige Bilanz.
Wie viele Straftaten gab es in der Silvesternacht 2015?
Aktuelle Zahlen der Kölner Staatsanwaltschaft auf Anfrage des MEDIENDIENST zeigen folgendes Bild:
- Im Nachgang der Ereignisse gab es 1210 Strafanzeigen, davon 511 Strafanzeigen wegen sexueller Übergriffe, davon 28 Anzeigen wegen versuchter oder vollendeter Vergewaltigung.
- Insgesamt waren 1.304 Personen von Straftaten betroffen, darunter 661 von sexuellen Übergriffen.
- 355 Beschuldigte wurden ermittelt, von ihnen 91 wegen sexueller Übergriffe.
- Ein Großteil der Beschuldigten waren Staatsbürger von Algerien und Marokko.Quelle
Wie viele Täter wurden verurteilt?
Nur wenige. Laut Kölner Staatsanwaltschaft gab es im Rahmen der Kölner Silvesternacht:
- insgesamt 46 Anklagen, vor allem wegen Diebstählen und ähnlichen Taten.
- Es gab 33 rechtskräftige Verurteilungen.
- Von 46 Anklagen waren fünf (auch) wegen sexueller Nötigung, davon wurden drei Beschuldigte verurteilt und zwei ganz oder teilweise freigesprochen.Quelle
Wie kam es zu so vielen Übergriffen?
Der Konfliktforscher Andreas Zick nennt das, was in der Silvesternacht passierte, einen "Einbruch von sozialen Normen, von Zivilcourage und von polizeilichen Schutzmöglichkeiten". Folgende Gründe hätten dabei eine Rolle gespielt:
- Vor dem Kölner Hauptbahnhof habe es in dieser Nacht viele Gruppen junger Männer mit "sexistischen, rassistischen und dehumanisierenden Einstellungen" gegeben, so Zick. Außerdem wurde viel Alkohol verkauft und konsumiert.Quelle
- Der Streetworker Franco Clemens macht noch auf einen weiteren Aspekt aufmerksam: Entscheidend war auch die wirtschaftlich prekäre Lage der Täter: "Das sind Menschen, die jahrelang hier sind, aber nicht arbeiten dürfen." Das sehe man bei vielen Geflüchteten, die in der Silvesternacht auffällig geworden waren. Man sehe es auch bei vielen "Intensivtätern", die sich vorher schon im Umfeld des Kölner Doms aufgehalten hätten. Wenig Geld und kein sicherer Aufenthaltsstatus – solche Faktoren führten häufig zu kriminellem Verhalten.Quelle
- Der Konfliktforscher Zick betont, dass es kaum ein Eingreifen der Polizei oder engagierter Bürger*innen gegeben habe, wie man auf dem Videomaterial aus der Nacht sehen könne.
- Auch der Ort selbst habe eine Rolle gespielt: Der Bahnhofsvorplatz sei nicht genügend ausgeleuchtet gewesen. Mit mehr Licht hätte man "Angsträume" verhindern und Opfer besser schützen können. Außerdem habe das Kölner Ordnungsamt am Silvestertag nur bis 14 Uhr patrouilliert und nicht wie üblich bis spätabends.Quelle
Was hat die Polizei seitdem geändert?
- Die Polizei schreite jetzt früher und konsequenter ein, wenn Frauen belästigt werden, so Klaus Zimmermann, Leiter im Leitungsstab der Kölner Polizei. In der Silvesternacht 2016 war die Polizei mit deutlich mehr Beamt*innen im Einsatz. Wegen der intensiven Kontrollen habe es weniger Straftaten gegeben, so Zimmermann. Aber viele Expert*innen sahen im Vorgehen der Polizei ein Racial Profiling. Etliche Menschen wurden offenbar wegen ihrer vermeintlichen Herkunft kontrolliert.Quelle
- Die Polizei habe sich vor der Silvesternacht 2017 Beratung von Fachleuten aus der Wissenschaft und Sozialarbeit geholt, so Zimmermann, und ihr Einsatzkonzept geändert. Mit Erfolg: Bei der Silvesternacht 2017 war die Polizei mit zahlreichen Bereitschafts- und Kommunikationsbeamt*innen im Einsatz, die verschiedene Sprachen beherrschten. Es wurde weniger kontrolliert. Bei aggressivem Verhalten wurde früh eingeschritten. Das Konzept ging auf, es kam zu wenigen Zwischenfällen.
Welche Gesetzesänderungen gab es?
In Folge der Kölner Silvesternacht wurden verschiedene Gesetze verschärft:
- Im Jahr 2016 wurde das Sexualstrafrecht verschärft: Sexuelle Übergriffe aus Gruppen sind seitdem strafbar. Außerdem sind auch Nötigungen strafbar, bei denen sich der Täter über den erkennbaren Willen des Opfers hinwegsetzt ("Nein heißt Nein"). Diese Veränderungen seien gut gewesen, wie die Kölner Pädagogin Behshid Najafi betont, die beim Migrantinnenverein "Agisra" arbeitet. Allerdings würden Sexualstraftäter immer noch zu selten verurteilt.Quelle
- Außerdem wurde das Asylrecht verschärft. Damit seien auch die Rechte geflüchteter Frauen weiter eingeschränkt worden, kritisiert Najafi. Etwa weil seitdem bestimmte Asylanträge im Schnellverfahren bearbeitet werden.Quelle
Wie änderten die Medien ihre Berichterstattung?
Die Silvesternacht sei ein "Wendepunkt für die Berichterstattung" gewesen, schrieb der Medienwissenschaftler Thomas Hestermann Ende 2019 in einer Expertise für den MEDIENDIENST.
- Der Deutsche Presserat änderte den Pressekodex, der Richtlinien für die journalistische Arbeit vorgibt. Vorher hieß es dort, die Herkunft von Tatverdächtigen sollte nur bei "begründetem Sachbezug" genannt werden. In der Neufassung ist die Nennung legitim, wenn ein "begründetes öffentliches Interesse" vorliegt.
- Die Medien nennen seitdem viel häufiger die Herkunft von Tatverdächtigen, besonders wenn es sich nicht um Deutsche handelt. Die Häufigkeit, mit der ausländische Tatverdächtige in TV-Berichten genannt wurden, stieg von 3,9 Prozent (2014) auf 28 Prozent (2019). Ausländische Tatverdächtige werden in Fernsehberichten 19 Mal so häufig erwähnt, wie es ihrem statistischen Anteil entspricht, resümiert Hestermann.Quelle
Wichtige Quellen:
> Abschlussbericht des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses (2017)
> Abschlussbericht der Kölner Polizei zur zweiten Silvesternacht ("AG Silvester") (2017)
> Expertise zur Herkunftsnennung bei Tatverdächtigen in den Medien (2019)
Von Carsten Janke
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