Dieser Text ist auch auf Englisch erschienen.
Als 2015 viele Geflüchtete nach Deutschland kamen, sorgte das auch international für Schlagzeilen. So titelte die britische Tageszeitung "The Guardian" im September 2015: "Cheering German crowds greet refugees after long trek from Budapest to Munich". Nahezu überall in Europa – und darüber hinaus – berichteten Medien über Angela Merkels Entscheidung, Geflüchtete aufzunehmen.
Wie nehmen europäische Länder die deutsche Migrationspolitik heute wahr? Wie hat sich die Berichterstattung verändert? Der MEDIENDIENST hat bei Fachleuten nachgefragt.
Adéla Jurečková – Leiterin des Migration Awareness Programms, People in Need Czech Republic
Tschechische Republik: 2015 berichteten tschechische Medien vor allem kritisch über Angela Merkels Entscheidung, Asylsuchende ins Land zu lassen. Besonders laut waren Stimmen, die Migration als "Bedrohung" dargestellt haben. Das ist auch heute noch der Fall, obwohl die "Flüchtlingskrise" inzwischen vorbei ist. In Berichten zur deutschen Migrationspolitik stehen oft Terrorismus und Kriminalität im Vordergrund. Das führt mitunter dazu, dass Straftaten, die in Deutschland von Migrantinnen und Migranten begangen wurden, auf tschechischen Titelseiten auftauchen – selbst dann, wenn es Bagatelldelikte waren und in Deutschland nur Lokalmedien darüber berichtet haben. Solche Berichte verstärken das Bild von Migration und Vielfalt als vermeintliche "Gefahr" und die Sorge in der Bevölkerung, dass so etwas auch in Tschechien passieren könnte, "wenn wir Migranten ins Land lassen". Diese negative Darstellung der deutschen Migrationspolitik hat dazu geführt, dass sich die öffentliche Meinung zu Deutschland in Tschechien seit der "Flüchtlingskrise" verschlechtert hat. Dabei ist natürlich zu beachten, vor welchen Herausforderungen Medien in Tschechien derzeit stehen: Der wirtschaftliche Druck ist gestiegen, Eigentümerstrukturen haben sich geändert und sogenannte 'alternative Medien', die falsche oder manipulative Inhalte verbreiten, haben an Einfluss gewonnen.
Dr. Myria Georgiou – Professorin für Medien und Kommunikation, London School of Economics
Griechenland: Das öffentliche Interesse Griechenlands an der deutschen Migrationspolitik ist seit 2015 groß. Medien berichten oft darüber, wie sich die Entscheidungen Deutschlands und der EU auf das Schicksal der rund 60.000 Flüchtlinge und Migranten auswirken, die in Griechenland leben – und von denen die meisten hoffen, nach Deutschland oder in andere nordeuropäische Länder weiterziehen zu können. Die Entwicklung der deutschen Migrations- und Asylpolitik seit 2015 wird oft als nachteilig für Griechenland dargestellt. So wird etwa kritisiert, dass Deutschland den Familiennachzug eingeschränkt hat und viele Geflüchtete in Griechenland deshalb "im Wartezustand" leben. Der Eindruck in Griechenland ist, dass Deutschland seinen Verpflichtungen in der Flüchtlingspolitik nicht nachgekommen sei. Viele Griechinnen und Griechen sind seit der Finanzkrise misstrauisch gegenüber Deutschland. Dieses Misstrauen hat sich inzwischen auf die deutsche Migrationspolitik und die politischen Absichten Deutschlands allgemein übertragen.
Vereinigtes Königreich: Auf dem Höhepunkt der sogenannten "Flüchtlingskrise" zeigten britische Medien großes Interesse an Deutschlands Umgang mit Geflüchteten. Die Berichte gingen jedoch in unterschiedliche Richtungen: Progressive Teile der Presse lobten Angela Merkel für ihre Entscheidung, Flüchtlinge aufzunehmen. Konservative und populistische Medien hingegen zeigten Misstrauen und übten Kritik an einer vermeintlichen "Massenmigration". Heute taucht die deutsche Migrationspolitik kaum noch in der Berichterstattung auf. Und wenn doch, dann meist mit Blick auf die Frage, welche Bedeutung sie für Großbritannien hat. Anfang 2019 etwa wurde viel über Deutschland berichtet, nachdem der lautstarke Brexit-Befürworter und konservative Abgeordnete Jacob Rees-Mogg ein Video von AfD-Chefin Alice Weidel bei Twitter geteilt hatte und deshalb von anderen Abgeordneten wegen der Unterstützung der "offen rassistischen Partei Deutschlands" kritisiert wurde.
Dr. Bernd Parusel – Experte für die nationale Kontaktstelle Schwedens im Europäischen Migrationsnetzwerk, schwedisches Migrationsamt
Schweden: Schweden und Deutschland haben 2015 recht ähnlich auf die Flüchtlingssituation reagiert: zunächst eher positiv, dann restriktiver mit Binnengrenzkontrollen und Gesetzesänderungen. Diese führten unter anderem zu Einschränkungen beim Familiennachzug und zu mehr Abschiebungen. In öffentlichen und medialen Debatten über Migration wird daher oft Bezug auf Deutschland genommen: Einzelne Gesetzesinitiativen, aber auch bloße Ankündigungen deutscher Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker werden herausgegriffen, um ähnliche Schritte in Schweden zu fordern – unabhängig davon, aus welchem politischen Spektrum sie kommen. Interessant ist auch, was in Schweden keine Schlagzeilen macht, wenn es um die deutsche Migrationspolitik geht: zum Beispiel das duale Ausbildungssystem, das in Deutschland die Eingliederung von Flüchtlingen und anderen Migranten in den Arbeitsmarkt erleichtert. Ein solches System gibt es in Schweden nicht und schwedische Medien verweisen selten auf das deutsche Modell. Dabei sind viele der Meinung, dass die Integration von Neuankömmlingen in Schweden zu langsam vorangeht.
Kontakte
Adéla Jurečková, People in Need Czech Republic / Kontakt
Dr. Myria Georgiou, London School of Economics / Kontakt
Dr. Bernd Parusel, schwedisches Migrationsamt / Kontakt
Von Sophia Burton und Joseph Bauer
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