Der Expertenkreis, der auf einen Bundestagsbeschluss hin gegründet wurde, hatte 2011 erstmals einen Bericht zum "Antisemitismus in Deutschland" vorgelegt. Für Diskussionen hatte gesorgt, dass in dem Gremium zwischenzeitlich kein einziger Jude vertreten war. Im aktuellen Gremium sind nun auch Experten vertreten, die jüdische Perspektiven einbringen. Ihr Bericht nimmt eine Bestandsaufnahme zur Lage des Antisemitismus in Deutschland vor und gibt Handlungsempfehlungen für Politik und Gesellschaft.
Das Fazit des Berichts: In Deutschland gehört Antisemitismus für viele Juden zum Alltag. Das zeige nicht nur der aktuelle antisemitische Vorfall an einer Schule in Berlin-Friedenau, wo ein jüdischer Schüler über Monate beleidigt und bedroht wurde, so Patrick Siegele, Leiter des Anne-Frank-Zentrums in Berlin und Koordinator des Expertengremiums bei der Vorstellung des Berichts. Im vergangenen Jahr habe es laut Bundesinnenministerium 644 ermittelte antisemitische Straftaten gegeben, 609 davon seien aus rechtsextremer Motivation heraus verübt worden.
Die Datenlage im Bereich Antisemitismus sei oft dürftig, stellt der Expertenkreis fest. Deshalb hat das Gremium insgesamt 13 Expertisen zu Themen wie "Antisemitismus und Fußball", "Hate Speech im Internet" oder "Antisemitismus in Schulbüchern" in Auftrag gegeben, deren Ergebnisse in dem Bericht vorgestellt werden. Auch zu antisemitischen Einstellungen unter Muslimen oder Flüchtlingen liegen kaum Zahlen vor, obwohl dieses Thema häufig Gegenstand kontroverser Debatten ist. Auch hierzu liefert der Bericht Erkenntnisse.
Der MEDIENDIENST stellt die Ergebnisse aus drei Expertisen vor:
Wie nehmen Juden in Deutschland Antisemitismus wahr?
Das "Institut für Konflikt- und Gewaltforschung" der Universität Bielefeld hat unter der Leitung von Andreas Zick mehrere qualitative und quantitative Befragungen zur jüdischen Perspektive auf Antisemitismus durchgeführt. Der Expertise zufolge halten 87 Prozent der Befragten vor allem Antisemitismus in den sozialen Netzwerken für ein großes Problem. 78 Prozent von ihnen nehmen eine Zunahme von Antisemitismus wahr. 83 Prozent befürchten, dass er in den nächsten Jahren weiter zunehmen wird.
Viele der Befragten führen ihre Befürchtungen auf die Einwanderung von Flüchtlingen mit muslimisch-arabischem Hintergrund zurück. 61 Prozent geben an, versteckte antisemitische Andeutungen erfahren zu haben, 29 Prozent wurden bereits beleidigt oder belästigt und drei Prozent erlebten körperliche Angriffe. 81 Prozent der körperlichen Angriffe gingen nach Einschätzung der Opfer von Muslimen aus. Die Mehrheit der Befragten hat antisemitische Vorfälle weder der Gemeinde noch der Polizei gemeldet. Der Expertenkreis fordert deshalb, den Opfern das Anzeigen antisemitischer Straftaten zu erleichtern. Unter anderem sollen Polizeibeamte besser für das Thema sensibilisiert werden.
Wie verbreitet sind antisemitische Einstellungen bei Flüchtlingen?
Die nicht-repräsentative Befragung von Sina Arnold vom "Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung" (BIM) legt ein “vergleichsweise hohes Maß” an antisemitischen Einstellungen bei Flüchtlingen aus nordafrikanischen Ländern sowie den Ländern des Nahen und Mittleren Ostens nahe. In vielen dieser Staaten gehöre Antisemitismus fest zum Medien- und Alltagsdiskurs. Bei den Einstellungen der Flüchtlinge gebe es aber Unterschiede je nach Sozialisation und Migrationsgeschichte, so Arnold. Ein geschlossenes antisemitisches Weltbild sei die Ausnahme. Einige der Befragten äußerten sich sogar entschieden pro-israelisch.
Wie äußern sich Imame zu Antisemitismus?
Chaban Salih (empati gGmbH) befasste sich in seiner Expertise mit dem Themenfeld Antisemitismus und muslimische Moscheegemeinden. Dazu befragte er 18 Imame nach ihren Einstellungen gegenüber Juden und der Situation in ihren Gemeinden. Die befragten Imame kritisieren, dass es unter den Gläubigen antisemitische Einstellungen gibt. Einige von ihnen versuchen, antisemitischen Ressentiments durch Begegnungen mit Juden entgegenzuwirken. Wenn es um den Nahostkonflikt geht, überschreiten viele Imame allerdings selbst die Grenze zum Antisemitismus: Die Gleichsetzung des Holocausts mit der Situation der Palästinenser sei eine wiederkehrende Aussage, stellte Salih fest.
Bei Antisemitismus nicht nur auf Muslime oder Geflüchtete blicken
Die beiden Studien zu antisemitischen Einstellungen sind nicht repräsentativ und bieten lediglich erste Einblicke in ein bislang wenig erforschtes Feld, betonen die Autoren. Insgesamt warnt das Expertengremium davor, Migranten zu den alleinigen Hauptverursachern von Antisemitismus zu machen. Es gebe die Gefahr, den Blick auf Muslime oder Geflüchtete zu verengen, sagte Juliane Wetzel vom Zentrum für Antisemitismusforschung an der TU Berlin. Die große Mehrheit der antisemitischen Straftaten werde von Rechtsextremisten begangen. Antisemitismus sei ein gesamtgesellschaftliches Problem: 40 Prozent der Bevölkerung teilten israelbezogene antisemitische Einstellungen.
In Deutschland gebe es “kein schlüssiges Gesamtkonzept” zur Bekämpfung von Antisemitismus, so der Koordinator des Expertengremiums Patrick Siegele. Nur wenige Projekte befassten sich explizit mit der Bekämpfung von Antisemitismus. Die Experten fordern deshalb die Berufung eines im Bundeskanzleramt angesiedelten Beauftragten, der die Bekämpfung und Prävention von Antisemitismus koordinieren soll. Weiterhin soll eine ständige Bund-Länder-Kommission die Abstimmung von Präventionsmaßnahmen im Bereich Schule, Justiz und Polizei verbessern. Die Experten empfehlen, zivilgesellschaftliche Präventionsarbeit langfristig zu fördern sowie Forschungsprojekte zu finanzieren, die sich nicht nur mit historischen, sondern auch mit gegenwärtigen Formen von Antisemitismus befassen.
Von Pavel Lokshin
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