Herr Meyer, Sie arbeiten seit 2008 als Seelsorger in hessischen Gefängnissen und sind damit der dienstälteste islamische Gefängnis-Seelsorger in Deutschland. Wie sind Sie dazu gekommen?
Husamuddin Meyer: Die Direktorin des Gefängnisses in Wiesbaden suchte jemanden, der für die muslimischen Gefangenen in ihrer Haftanstalt das Freitagsgebet in deutscher Sprache anbieten konnte. Über das Wiesbadener Integrationsamt hat sie mich gefunden. Ich habe das erst einmal begonnen, ohne zu wissen, was mich erwartet. Weil die Leute nach dem Gebet ganz viele Fragen hatten, ist dann der Bedarf an Seelsorge deutlich geworden. Wir haben das Angebot dann rasch von vier auf acht Stunden die Woche erhöht.
Was ist der Unterschied zwischen einem Imam und einem Seelsorger?
Im Idealfall sollte ein Imam auch ein Seelsorger sein. Aber das kommt immer darauf an, ob die Leute den Eindruck haben, er kann sie verstehen, und ihm ihre Sorgen anvertrauen. Deswegen ist nicht jeder Imam zugleich ein guter Seelsorger. Aber auch nicht jeder Seelsorger ist ein guter Imam. Ein Imam muss eine Freitagspredigt leiten können, er muss gut Vorbeten können, die Techniken beherrschen und im islamischen Recht bewandert sein.
Die christliche Seelsorge im Gefängnis wird von den jeweiligen Kirchen organisiert. Wer bezahlt Sie für Ihre Tätigkeit?
Christliche Seelsorger sind bei der Kirche angestellt, dadurch haben sie einen besseren Status. Die Kirchen erhalten das Geld für die Seelsorge aber vom Staat zurück. Bei mir war es so, dass anfangs die Stadt Wiesbaden die Finanzierung übernommen hat, bis das Gefängnis in Wiesbaden dafür einen Etat einrichten konnte. Dann hat auch das Land Hessen ein eigenes Budget dafür zur Verfügung gestellt.
Problematisch war natürlich immer die Frage: Kann ein religiöser Dienstleister beim Staat angestellt sein? Deswegen erfolgt meine Bezahlung auf Honorarbasis. Das wird aber von Bundesland zu Bundesland anders geregelt.

HUSAMUDDIN MEYER ist sufischer Imam und Gefängnis-Seelsorger in der JVA Wiesbaden. Außerdem leitet er eine Salafismus-Beratungsstelle. Nach Reisen in Nord- und Westafrika konvertierte er vor über 25 Jahren zum Islam. In Freiburg hat er Islamwissenschaft, Ethnologie und Geographie studiert. Die Medientour zu muslimischer Seelsorge und Extremismus-Prävention in Hessens Gefängnissen wurde im Rahmen des Projekts „Informationen für Journalisten zu Islam und Muslimen in Deutschland“ von der Robert Bosch Stiftung gefördert.
Womit kommen die Gefangenen zu Ihnen?
Die meisten wollen sich ganz einfach erleichtern. Am Anfang wollten viele wissen, wie man sich gegen die Geister wehren kann, die einen in der Nacht heimsuchen. Viele beschäftigt auch, wie sie ein Leben nach der Haft hinbekommen, ohne wieder kriminell zu werden. Sie haben Angst, dass sie wieder rückfällig werden, weil sie mit einem so geringen Lohn von 1.000 Euro pro Monat nicht über die Runden kommen. Liebeskummer ist auch oft ein Problem. Oder Kinder, die sie irgendwo haben.
Manchmal berichten mir Leute auch von Gräueltaten, die sie im Krieg erlebt haben. Das gilt nicht nur für Rückkehrer, sondern auch für Flüchtlinge, die dort viele grausame Dinge erlebt haben und traumatisiert sind. Ganz oft reicht es aus, wenn die Menschen mir ihre Sorgen erzählen. Was auch sehr gut hilft sind die Rituale, gemeinsamen Gebete und die Liturgien, die wir durchführen. Manchmal rezitiere ich aus dem Koran. Dann höre ich immer wieder: Jetzt geht es uns viel besser.
Gefängnisse gelten als "Brutstätten" der Radikalisierung. Die Attentäter von Paris etwa haben sich in ihrer Haft radikalisiert. Wie lässt sich dem vorbeugen?
Da gibt es verschiedene Modelle. Entweder man bringt die Radikalen alle in einen eigenen Trakt unter, damit sie keinen Kontakt zu anderen haben. Das führt aber oft dazu, dass sie sich gegenseitig bestärken und noch mehr radikalisieren, während die anderen besser geschützt sind. Wir in Wiesbaden haben die besten Erfahrungen damit gemacht, die potentiellen Radikalisierer in Wohngruppen mit anderen unterzubringen, die ganz anders denken und nicht so leicht beeinflussbar sind.
Die islamische Seelsorge wird oft unter dem Aspekt der Extremismus-Prävention betrachtet, nicht als Selbstzweck. Ist das zu kurz gegriffen?
Ich bin der Meinung, dass die Seelsorge die beste Form der Prävention ist, weil es dabei konkret um den Menschen geht. Die Absicht, ein Attentat zu begehen oder in den Krieg zu ziehen, rührt ja daher, dass man mit sich und der Welt nicht zufrieden ist und Unrecht empfindet. Wenn wir dazu beitragen können, diese innere Wut abzubauen, dann ist das meiner Meinung nach ungeheuer wichtig.
Wie haben die Gefangenen darauf reagiert, dass Sie das Freitagsgebet im Gefängnis angeboten haben?
Das hat viele unglaublich gefreut. Viele haben gesagt: endlich wird unser Glaube akzeptiert. Das Freitagsgebet hat dazu geführt, dass die Gefangenen das Gefühl hatten, dass ihre Kultur anerkannt und gesehen wird. Sie fühlen sich mehr willkommen als früher, wo sie leicht Argumente gefunden haben, um von einer Diskriminierung zu sprechen.
Inzwischen kommen vermehrt militante Islamisten in Haft, die in Syrien gekämpft und dort Verbrechen begangen haben. Können Seelsorger zur Deradikalisierung dieser Rückkehrer beitragen?
Man kann nicht auf diese Leute zugehen mit der Absicht, sie aktiv zu deradikalisieren. Aber durch das Freitagsgebet und die Gruppentreffen gibt es ein Angebot, zu dem jeder eingeladen ist, der gerne kommen möchte. Manchmal kommen IS-Rückkehrer dazu, manchmal auch nicht. Manchmal kritisieren sie etwas und gehen wieder. Manchmal kommen sie und wollen diskutieren. Da hat man immer auch die Möglichkeit, eventuell den anderen zu zeigen, wie schwach die Argumentation dieser Leute ist. Häufig ist es aber auch so, dass sie, wenn sie lange genug da sind, doch einen Gesprächsbedarf entwickeln und zum Beispiel um ein Einzelgespräch bitten.
Sie hatten also schon mit Syrien-Rückkehrern zu tun. Was sind das für Menschen?
Nach meiner Erfahrung waren die meisten sehr enttäuscht von der Realität dort und wollten sehr schnell wieder weg. Ich habe noch keinen kennengelernt, der darauf beharrt hat, dass das eine gute Sache war.
In der Öffentlichkeit herrscht das Bild von den "tickenden Zeitbomben" vor, vor denen man sich schützen muss. Ist das überzeichnet?
Ja, zumindest was meine persönliche Erfahrung angeht. Viele sind eher geschockt und traumatisiert von ihren Erlebnissen. Sie wollten ihre Religion besonders gut leben und man hatte ihnen eingeredet, dass das dort möglich wäre. Die Salafisten behaupten, dass ihre Ideologie die “Urreligion” sei und das man sein Leben dafür einsetzen müsse. Viele Rückkehrer haben das Gefühl, das sie mit diesem Ansinnen total gescheitert sind.
Ich muss aber auch sagen, dass ich in Wiesbaden im Jugendstrafvollzug arbeite. Die Insassen dort sind höchstens 24 Jahre alt, die sind nicht so hart drauf wie im Erwachsenenstrafvollzug. Insofern sind meine Erfahrungen nicht repräsentativ.
Das Rhein-Main-Gebiet gilt als Hochburg von militanten Islamisten. Von dort aus sind ganze Gruppen nach Syrien ausgereist. Warum ist das so?
Ein Problem war sicher, dass einige Moscheen in der Region lange Zeit stark wahhabitisch geprägt waren. Das hat einen guten Nährboden für eine weitere Radikalisierung geboten. Ein weiterer Grund ist, dass es im Rhein-Main-Gebiet viele junge Leute gibt, die auf der Suche nach einer Identität sind. Ob sie nun marokkanische, albanische, afghanische Vorfahren haben: Identitätsmäßig sitzen sie irgendwo zwischen den Stühlen.
Interview: Daniel Bax
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