Mediendienst: Herr Botsch, vor drei Jahren erschien das Buch „Deutschland schafft sich ab“. Sarrazins Aussagen wurden oft kritisiert, der Begriff „Rassismus“ dabei aber nur selten benutzt. Warum gibt es in der deutschen Öffentlichkeit keine Tradition, Rassismus auch als solchen zu bezeichnen?
Gideon Botsch: Das hängt sicherlich mit der nationalsozialistischen Vergangenheit zusammen. Wer den Begriff verwendet, kommt ganz schnell in Verdacht, den Vergleich mit Auschwitz herstellen zu wollen. Ihm wird ganz schnell vorgeworfen, die Nazi-Keule zu schwingen. Das ist wie ein Reflex.
Vor seinem Buch gab Sarrazin 2009 der Zeitschrift Lettre ein Interview, das seine umstrittenenThesen vorwegnahm. Der SPD-Kreisverband Berlin-Spandau und die SPD-Abteilung Alt-Pankow reagierten mit einem Parteiordnungsverfahren. Sarrazin sollte raus aus der Partei. Sie haben dazu ein 21-seitiges Gutachten verfasst. Wie kamen Sie zu diesem Auftrag?
In der ersten Runde des Parteiordnungverfahrens wurde von der SPD-Kreis-Schiedskommission festgestellt, dass die Aussagen in dem Lettre-Interview nicht rassistisch seien. Darüber waren die Antragsteller ehrlich verblüfft. Für sie lag offen auf der Hand, dass das rassistisch war. Sie haben dann meine Expertise erbeten, so kam es zu dem Gutachten. Ergebnis meiner Textanalyse war, dass es keineswegs bloß um unbewusste rassistische Ressentiments ging, sondern um die Mobilisierung von Vorurteilen – inszeniert als Tabubruch und verknüpft mit Handlungenvorschlägen an die Politik, welche sonst so radikal nur von antidemokratischen, rechtsextremen Parteien gefordert werden.
Sarrazin blieb aber in der Partei, überstand sogar noch ein zweites Parteiordnungsverfahren wegen seines Buches. Wie erklären Sie sich, dass es nicht gelang, Sarrazin aus der SPD auszuschließen?
Für mich ist auffällig, dass diejenigen in der SPD, die das Parteiordnungsverfahren angestoßen haben, sich auch schon vorher mit Themen wie Rassismus, Ausgrenzung und Vorurteilen auseinandergesetzt haben. Etwa Raed Saleh aus Spandau, der heute Fraktionsvorsitzender der SPD im Berliner Abgeordnetenhaus ist. Sie kannten sich durchaus damit aus – im Gegensatz offensichtlich zu denjenigen, die anderweitig geurteilt haben. Ärgerlich an der abschließenden Entscheidung der Schiedskommision ist die Bewertung, dass Sarrazin mit seinen Äußerungen eine gute und wichtige Diskussion angestoßen habe. Tatsächlich hat die Sarrazin-Debatte weder Neues gebracht noch die Diskussion bereichert, dagegen aber die Atmosphäre nachhaltig vergiftet.
Hätte eigentlich ein Rauswurf aus der SPD unbedingt sein müssen?
Es gibt verschiedene Sanktionsmöglichkeiten, der Ausschluss aus der Partei ist die ultimative. Den Antragstellern ging es, soweit ich verstanden habe, auch vielmehr darum klar zu machen, dass Sarrazins Äußerungen keine Parteiposition sind.
Wegen des Lettre-Interviews stellten der Türkische Bund in Berlin-Brandenburg und andere 2009 Strafantrag gegen Sarrazin. Die Äußerungen entsprachen ihrer Ansicht nach dem Tatbestand der Volksverhetzung und Beleidigung. Die Berliner Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren jedoch ein – Sarrazin habe „weder zum Hass oder zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen aufgerufen“. Wie schätzen Sie das ein?
Man hätte das durchaus mal prüfen können. Die genauen Gründe warum sich die Staatsanwaltschaft anders entschieden hat, kenne ich nicht. Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut, aber der Schutz von Minderheiten vor Diskriminierung und kollektiver Beleidigung ist es auch. Und leider sind Staatsanwaltschaften und Gerichte in Deutschland noch allzu oft wenig engagiert, wenn es um Letzteres geht. Das war ja auch Gegenstand der Beschwerdeverfahrens beim Ausschuss der Vereinten Nationen.
Der UN-Ausschuss, der die Einhaltung der Antirassismuskonvention überwacht, sprach im April 2013 eine Rüge gegen Deutschland aus. Gesetzgebung und Praxis müssten auf den Prüfstand. Fühlen Sie sich dadurch in Ihrer Bewertung bestätigt?
Ich bin in der Bewertung, ob es sich um rassistische Aussagen handelt, zu keinem Zeitpunkt unsicher gewesen. Und deswegen wundert mich die Bestätigung auch nicht. Ich habe keinen einzigen Experten gehört, der zu einer anderen Einschätzung gekommen wäre. Als ich das Gutachten gemacht habe, bin ich im Kollegenkreis sogar gefragt worden: Was gibt es denn da zu beweisen, warum machst Du das, das ist doch offenkundig.
Die Bundesregierung hat daraufgeantwortet: Man prüfe „Gesetzesänderungen zur Strafbarkeit rassistischer Äußerungen“. Wie schätzen Sie die Ankündigung von Gesetzesänderungen durch die Bundesregierung ein?
Ich bin immer dafür, zunächst zu prüfen, ob Gesetzesänderungen überhaupt erforderlich sind. Wir haben ja eine Gesetzgebung, die hier schon einiges leistet oder möglich macht. Mitunter fehlt es eher am Willen, bestehende Gesetze anzuwenden. In der Rüge des UN-Ausschusses in der Causa Sarrazin ist explizit von „state failure“ die Rede. Dass sich Deutschland jüngst mehrfach „Staatsversagen“ im Zusammenhang mit Rassismus vorwerfen lassen musste, sollte zu denken geben. Davon war beim Skandal um die NSU-Mordserie die Rede, auch sprach die Amadeu-Antonio-Stiftung jüngst in einem Report von Versagen und Verharmlosung im Kampf gegen Rechtsextreme – besonders im Westen Deutschlands.
Im derzeitigen Bundestagswahlkampf steht die These im Raum, dass der Sarrazin-Skandal die SPD bei den türkischstämmigen Wählern Stimmen kosten wird. War das zu erwarten?
Mich wundert das nicht. Es ist ein Ergebnis der von der SPD nicht sehr geschickt geführten Debatte um Sarrazin und sein Buch. Da haben teilweise der Wille und die Einsicht gefehlt, sich deutlicher von dieser Ausgrenzungslogik abzugrenzen. Ich denke aber auch, dass sich viele in der Partei von der medialen Diskussion verunsichern ließen – Meinungsmacher redeten der SPD ein, ihre Basisklientel würde so denken wie Sarrazin.
Dr. Gideon Botsch ist Politikwissenschaftler. Seit 2006 arbeitet er am Moses Mendelsohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien der Universität Potsdam. Seine Forschungsschwerpunkte sind Antisemitismus und Rechtsextremismus.
Interview: Hans-Hermann Kotte
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