MEDIENDIENST: Wenn es um Zuwanderung nach Deutschland geht, taucht immer wieder ein Argument auf: Deutschland habe bisher in die sozialen Sicherungssysteme eingeladen, aber nicht in den Arbeitsmarkt. Ist diese Aussage wissenschaftlich belegbar?
Yuliya Kosyakova: Ich finde es falsch, von einer Einladung in den Sozialstaat zu sprechen. Menschen kommen nicht her, um Sozialleistungen zu beziehen. Sie wollen etwas erreichen. Sie wollen arbeiten und sich integrieren.
Herbert Brücker: Seit 2010 hat sich die Beschäftigung von Ausländer*innen in Deutschland verdoppelt, der Anteil der Leistungsbezieher*innen ist zurückgegangen. Einwanderer haben ganz erheblich zum Sozialstaat beigetragen. Ohne Migration hätten wir kein solches Wachstum gehabt.
Dr. Yuliya Kosyakova ist Arbeitsmarkt- und Migrationsforscherin am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). Sie koordiniert dort unter anderem die Befragung von Geflüchteten aus der Ukraine, gemeinsam mit Herbert Brücker. Seit 2020 ist die Ökonomin außerdem Lehrbeauftragte an der Universität Bamberg.
Prof. Dr. Herbert Brücker ist Direktor des Berliner Instituts für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM) und leitet den Forschungsbereich Migration, Integration und internationale Arbeitsmarktforschung am Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). (Foto: Murr)
In der Debatte kursiert gerade eine Zahl. Neun von zehn Menschen kämen über das Asyl- und Flüchtlingssystem nach Deutschland und nur einer über reguläre Arbeitsmigration. Trifft das zu?
Herbert Brücker: Das widerspricht allem, was wir wissen. Wir haben uns die Zuzüge seit 2010 nach Deutschland angeschaut. Nur 13,1 Prozent der Menschen, die von 2010 bis 2021 nach Deutschland zugezogen sind, sind über das Asyl- und Fluchtsystem gekommen. Selbst im Ausnahmejahr 2015, in dem viele Menschen aus Syrien und Afghanistan kamen, waren es weniger als 25 Prozent. Für 2022 haben wir die Zahlen noch nicht. Aber auch da wird der Anteil der Schutzsuchenden trotz der Geflüchteten aus der Ukraine niemals 90 Prozent erreichen.
Schauen wir uns die Zahlen nochmal näher an: Aus welchen Ländern wandern die meisten Menschen nach Deutschland ein?
Herbert Brücker: Gut die Hälfte der Migrantinnen und Migranten sind seit 2010 aus Ländern der Europäischen Union nach Deutschland gekommen. Die Nettoweinwanderung aus der EU lässt aber nach. Nach der EU-Osterweiterung wurde es durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit einfacher, sich einen Arbeitsplatz in einem anderen EU-Land zu suchen, deshalb kamen viele Menschen nach Deutschland. Doch dieses Potenzial ist nun allmählich ausgeschöpft.
Warum?
Herbert Brücker: Die jungen, wanderungsbereiten Bevölkerungsgruppen haben das Land verlassen, die Pro-Kopf-Einkommen der neuen Mitgliedsstaaten konvergieren und der demografische Wandel betrifft auch diese Länder. Hinzu kommt, dass viele Menschen wieder in ihre Heimatländer zurückkehren. Rechnet man Zu- und Wegzüge gegeneinander auf, kommen unter dem Strich nur noch gut 100.000 Personen im Jahr aus EU-Ländern.
Bis Ende dieses Jahrzehnts wird die Nettozuwanderung weiter sinken, auf schätzungsweise 50.000 Personen. Deutschland muss deshalb stärker auf Einwanderung aus Drittstaaten setzen, um seine Arbeitsplätze besetzen zu können. Wir brauchen eine Nettoeiwanderung von 400.000 Personen pro Jahr, um das Erwerbspersonenpotenzial, also das Arbeitsangebot, in Deutschland konstant zu halten. Auch dann steigt der Altenquotient, also das Verhältnis der älteren Bevölkerung zur Bevölkerung im Erwerbsalter, noch immer um 18 Prozentpunkte. Wir bräuchten deshalb eigentlich eine Nettoeinwanderung von deutlich über 400.000 Personen, um die sozialen Sicherungssysteme und die öffentlichen Haushalte zu stabilisieren.
Wie viele Menschen kommen denn nach Deutschland, um hier zu arbeiten?
Herbert Brücker: Viele EU-Bürger*innen kommen aus Erwerbsmotiven nach Deutschland, das zeigen Befragungen. Von den Drittstaatsangehörigen haben nur etwa acht Prozent einen Aufenthaltstitel zu Erwerbszwecken. Das ist in der Tat sehr niedrig.
Warum ist die Zahl in Deutschland so niedrig?
Herbert Brücker: Das liegt daran, dass die Hürden für Erwerbsmigration nach Deutschland so hoch sind. Die Menschen kommen deshalb eher über andere Kanäle.
Yuliya Kosyakova: Das heißt aber nicht, dass sie nicht arbeiten. Ein Beispiel ist der Familiennachzug. In Deutschland darf man seine Familie nur dann nachholen, wenn man für sich selbst sorgen kann und nicht vom Sozialstaat abhängig ist. Die Wahrscheinlichkeit ist hoch, dass die Nachgezogenen dann auch in den Arbeitsmarkt gehen. Wie unsere Befragungen zeigen, sind die Zuwanderungsmotive sehr vielfältig und schließen einander nicht aus. Von den Personen, die über Familiennachzug oder anderen Kanäle gekommen sind, gibt die große Mehrheit an, arbeiten zu wollen. Allerdings sind die Erwerbstätigenquoten geringer als unter denjenigen, die über einen Aufenthaltstitel zu Erwerbszwecken zuziehen.
Sie haben untersucht, wie viele Geflüchtete in den Jahren nach 2015 einen Job gefunden haben. Wie sieht die Bilanz bisher aus?
Herbert Brücker: Gut die Hälfte der Menschen, die 2015 gekommen sind, hatten im Jahr 2021 eine Beschäftigung. Mittlerweile dürfte der Anteil noch höher sein. Das sind bessere Werte als bei den Geflüchteten aus Jugoslawien in den 90er Jahren.
Wie sieht es bei den Geflüchteten aus der Ukraine aus?
Yuliya Kosyakova: Neun Monate nach Kriegsanfang sind etwa 17 Prozent der Geflüchteten aus der Ukraine erwerbstätig. Das ist in der kurzen Zeit ein hoher Wert, zumal die Menschen geflohen sind und nicht wegen der Arbeit gekommen sind. Das Bildungsniveau ist sehr hoch, viele möchten gerne arbeiten. Aber nicht alle wollen sofort eine einfache Helfertätigkeit aufnehmen. Wer länger bleiben will, lernt erstmal die Sprache und bemüht sich um eine Anerkennung des Abschlusses oder eine Nachqualifizierung. Bei den ukrainischen Geflüchteten haben wir übrigens auch angeschaut, warum sie sich für Deutschland entschieden haben. Die größte Rolle spielte, dass sie ein Netzwerk aus Familie oder Freunden hier hatten. Der zweitwichtigste Grund war die Achtung der Menschenrechte in Deutschland – und nicht der Sozialstaat.
Herbert Brücker: Wir sollten Geflüchtete gut in den Arbeitsmarkt integrieren. Gleichzeitig müssen wir die Hürden für Erwerbsmigration dringend senken. Aus Befragungen wissen wir, dass Deutschland ein attraktives Land ist und Menschen zum Arbeiten kommen wollen. Das funktioniert aber nicht über den Weg, der dafür vorgesehen ist. Das ist das eigentliche Drama.
Was ist die größte Hürde?
Herbert Brücker: Das Hauptproblem ist die Anerkennung der beruflichen Abschlüsse. Ich würde mir wünschen, dass die Politik sich da richtig rantraut. Die Vorschläge für die Reform des Einwanderungsgesetzes enthalten zwar viele vernünftige Elemente, sind aber viel zu kompliziert.
Es bringt nichts, immer mehr Wege für Erwerbsmigration einzuführen, die im Ausland aber keiner versteht. Nach unserer Einschätzung wird die Erwerbsmigration aus Drittstaaten nicht spürbar steigen, wenn es bei diesen Vorschlägen bleibt. Besser wäre es, wie in den USA und Kanada Abschlüsse aus anderen Ländern auch ohne Gleichwertigkeitsprüfung anzuerkennen oder wie in Australien und Norwegen die Gleichwertigkeitsprüfung durch ein schnelles allgemeines Qualifikationsfeststellungsverfahren zu ersetzen. Wir müssen uns von der Vorstellung befreien, dass nur Qualifikationen etwas zählen, die exakt identisch mit den in Deutschland erworbenen sind. Auch im Ausland wird gut ausgebildet, nur häufig anders als hierzulande.
Yuliya Kosyakova: Wenn solche Hürden fallen, führt das zu mehr Beschäftigung. Das zeigen die Erfahrungen mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU. In der Folge zogen mehr Menschen nach Deutschland, aber auch die Beschäftigungsquoten stiegen. Unter dem Strich führt das zu Mehreinnahmen für den Staat.
Interview: Cordula Eubel
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