Wissenschaftler, Politiker und Organisationen haben vor Kurzem die Einrichtung einer Enquete-Kommission im Bundestag gefordert. Sie soll Leitlinien für die Vielfalt der Einwanderungs-Gesellschaft und eine Neuausrichtung der Migrationspolitik entwickeln. Was die Bundesregierung in diesem Bereich plant, steht im Koalititionsvertrag. Für den Mediendienst hat Orkan Kösemen die Vorhaben in den Bereichen Migration, Integration und Asyl in einem Essay analysiert und bewertet.
Darin erinnert Kösemen daran, dass im Vorfeld der Koalitionsverhandlungen die Erwartung gestanden hat, die Volksparteien könnten gemeinsam neue Schritte wagen bei der Gestaltung des Einwanderungslandes Deutschland. Erfüllt wurden sie dem Politologen zufolge jedoch nicht. Insgesamt sei der Koalitionsvertrag hinsichtlich der Themen Migration und Integration "kein großer Wurf": Keine Partei sei mit einem umfassenden Konzept für Migrationspolitik in die Verhandlungen gegangen. Stattdessen habe man um Einzelfragen gerungen, die keine strategische Weiterentwicklung darstellen.
"Am Ende der Verhandlungen kamen drei fassbare Ergebnisse heraus: die Abschaffung der Optionspflicht, Erleichterungen für Flüchtlinge und die Aufstockung des Programms 'Soziale Stadt'. Der Rest sind Absichtserklärungen, sich mit den Chancen und Herausforderungen von Zuwanderung zu beschäftigen oder einfach die Weiterführung von einzelnen Elementen der bisherigen Migrationspolitik, ohne sich aber auf Zahlen oder Zeiträume festzulegen", urteilt Kösemen.
Halber Schritt nach vorn
So sei die Abschaffung der Optionspflicht zwar überfällig gewesen. Das jetzige Verhandlungsergebnis beim Thema Mehrstaatigkeit bedeute jedoch nicht die von der SPD angekündigte allgemeine Einführung des Doppelpasses, die sich viele Einwanderer der ersten Generation wünschen. Die Vereinbarung komme lediglich den seit 1990 in Deutschland geborenen Nachkommen von Drittstaatenangehörigen zugute. "Für alle nicht-EU-Migranten, die seit Jahrzehnten hier leben, oder zukünftige Einwanderer bedeutet diese Regelung jedoch nichts. Für sie gilt weiterhin das Verbot der Mehrstaatlichkeit", so Kösemen. SPD und CDU/CSU hätten sich in der Mitte getroffen – obwohl die Optionspflicht selbst bereits auf einem Notkompromiss der Beteiligten aus dem Jahr 2000 beruhte.
Die Einführung einer "stichtagsunabhängigen Bleiberechtsregelung" für geduldete Flüchtlinge sei dagegen ein klarer Fortschritt. Da die Bleiberechtsregelung von einem Stichtag abhängt, betrifft das langfristig sämtliche der rund 85.000 geduldeten Personen, wenn sie die Aufenthaltszeiten und Voraussetzungen erfüllen.
Auch die Erleichterungen für Flüchtlinge blieben Kösemen zufolge hinter den Erwartungen zurück. So war die im Vertrag vereinbarte Abschaffung der Residenzpflicht bzw. die Ausweitung des Aufenthaltsbereichs von Asylbewerbern auf das jeweilige Bundesland bereits vor den Koalitionsverhandlungen in ganz Deutschland außer in Bayern und Sachsen Standard. Dass Asylanträge schneller bearbeitet werden und der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert wird, seien sinnvolle und überfällige Entscheidungen.
Schließlich sei das Programm „Soziale Stadt“ – eine von der Bundesregierung geförderte Initiative zur Stadtteilentwicklung – im Koalitionsvertrag mehrmals erwähnt. Mit der Aufstockung der Mittel und der Erweiterung des Empfängerkreises soll den negativen Auswirkungen entgegengewirkt werden, die die aktuelle EU-Binnenwanderung aus Bulgarien und Rumänien für einige Kommunen habe. Dies sei aber auch Ausdruck einer reaktiven Politik: "Nachdem die Mittel des Programms erst 2010 von der damaligen CDU/FDP-Regierung trotz Protesten um 70 Prozent gekürzt wurden, ist das Programm wiederentdeckt worden", schreibt Kösemen.
Was verpasst wurde
"Wäre dies ein Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2000, so hätte man ihn als progressiv und zukunftsweisend bezeichnet." Im Jahr 2013 müsse die Bewertung jedoch verhaltener ausfallen: "Mit den aktuellen Vereinbarungen geht die große Koalition insgesamt in die richtige Richtung, nur in einem sehr niedrigen Tempo. Es ist mehr nachträgliche Politikkorrektur als vorwärtsgewandte Migrationsplanung", urteilt der Politologe. Die Union habe sich mit der Infragestellung der „Loyalität von Mehrstaatlern“ und der Argumentation über angebliche „Armutseinwanderung“ auf abseitige Pfade verirrt, was gesellschaftspolitisch mehr Schaden anrichte als zu irgendeiner positiven Erkenntnis zu führen. Dabei lasse die CDU ihre Schwesterpartei CSU gewähren.
Dies habe den Blick auf die wesentlichen Fragen verstellt, so Kösemen. Im Ergebnis habe Deutschland weiterhin keine einheitliche Einwanderungssteuerung, die dringend nötig sei, um auf Arbeitsmarktengpässe bestimmter Branchen zu reagieren und Einwanderer langfristig an ihre neue Heimat zu binden. Der im Koalitionsvertrag häufig verwendete Begriff „Willkommenskultur“ drohe aber zu einer Phrase zu verkommen, wenn er nicht mit einer greifbaren Politik untermauert werde.
Was möglich gewesen wäre
Die Alternative zum Feilschen um Einzelpunkte sei ein gemeinsames Regierungsprojekt gewesen, in dem alle beteiligten Parteien die für sie wichtigen Punkte hätten unterbringen können. Dem Politologen zufolge wäre es nicht schwer gewesen, eine inhaltliche Klammer dafür zu finden: "Bundeskanzlerin Angela Merkel hat selbst vor den Koalitionsverhandlungen das Thema Demografie als eines der Eckpunkte ihres zukünftigen Regierungshandelns benannt", so Kösemen. Im Querschnittsthema "demografischer Wandel" hätten auch Migrationsthemen Platz finden können, ohne sie unter Stichwörtern wie "Loyalitätskonflikte", "Sozialmissbrauch" oder "europäische Grenzsicherung" debattieren zu müssen.
"In diesem Rahmen hätten CDU/CSU und SPD auch mehr wagen können, ohne dass eine Seite als Verlierer dagestanden hätte", glaubt Kösemen. Letztendlich spiegelten die vereinbarten Punkte den kleinsten gemeinsamen Nenner zwischen den Verhandlungspartnern wider. Damit sei die Große Koalition unter ihren Möglichkeiten geblieben. Dieser Meinung sind offensichtlich auch die Initiatoren und Unterzeichner des Aufrufs, die nun die Einrichtung einer Enquete-Kommission "Vielfalt und gesellschaftliche Teilhabe" im Bundestag fordern.
Die gesamte Analyse können Sie hier herunterladen. Dr. Orkan Kösemen hat Politikwissenschaft in Münster und Prag studiert und über institutionellen Wandel in Osteuropa im Rahmen des EU-Beitritts promoviert. Er ist Projektmanager im Bereich Integration und Demokratie bei der Bertelsmann Stiftung und verantwortlich für zahlreiche Publikationen zum Thema.
Von Rana Göroğlu, MDI
Sie sind Journalist*in und haben weitere Fragen oder suchen Fachleute zum Thema? Dann können Sie uns gern kontaktieren. Wir helfen schnell und unkompliziert. Unsere Texte und Grafiken können kostenfrei unter den Regeln der Creative Commons und unserer Namensnennung verwendet werden. Dies gilt nicht für Bilder und Fotos, die wir von Dritten erworben haben.