MEDIENDIENST: Wie ist die Situation in Kabul?
Sparghie Nastoh*: Viele Afghan*innen wollen immer noch das Land verlassen. Menschen, die im öffentlichen Dienst arbeiten, werden seit Wochen nicht bezahlt. Alle Banken sind geschlossen. Es gibt kein Geld. Stromausfälle sind die Regel. Die Taliban ermutigten zwar die Männer, wieder zu arbeiten, aber nur wenige sind tatsächlich zurück zur Arbeit gegangen. Darüber hinaus kamen im Juli und August viele Menschen aus anderen Provinzen in die Stadt, um den Taliban-Angriffen zu entkommen. Jetzt sind sie hier gestrandet – ohne jegliche Hilfe.
Wie blicken Afghan*innen auf ihre Zukunft?
Die Zukunft ist sehr ungewiss. Vieles wird davon abhängen, was für eine Regierung die Taliban zusammenstellen werden – und welche Regeln diese Regierung einführen wird. In den vergangenen 20 Jahren haben die Menschen in Afghanistan begonnen, auf eigenen Beinen zu stehen und eine bessere Lebensqualität anzustreben. Viele Menschen sind nach Kabul gekommen, um in Freiheit zu leben und Chancen auf eine bessere Bildung zu haben – vor allem für ihre Töchter. Jetzt sind alle ihre Hoffnungen plötzlich zerstört worden. Schüler*innen und Studierende – insbesondere Frauen – wissen nicht, ob sie ihre Bildungslaufbahn jemals fortsetzen können. Die Taliban wollen getrennte Klassen für Mädchen und Jungen. Auch wenn das funktionieren sollte, gibt es einfach nicht genug Lehrerinnen, die Mädchen unterrichten, für alle Fächer. In Schulen und an Hochschulen gibt es nicht genug Platz für separate Klassen. Es ist ziemlich klar, dass Frauen aus dem Bildungssystem gedrängt werden.
Die Evakuierungsoperationen am Flughafen in Kabul wurden beendet. Welche andere Möglichkeiten haben die Menschen, das Land zu verlassen?
Die Evakuierung war ein Chaos: Es gab Dutzende Tote und Tausende wurden verletzt. Eine Evakuierung kann auch keine dauerhafte Lösung für Afghanistan sein. Was wäre, wenn alle Intellektuellen und gebildeten Menschen wegziehen würden? Was können unsere Leute dann tun? Die internationale Gemeinschaft sollte versuchen, sowohl den Afghan*innen außerhalb als auch innerhalb des Landes zu helfen. Wir brauchen ihre Hilfe mehr denn je.
Was sind Ihre Pläne?
Meine Familie und ich haben Afghanistan nie verlassen. Als ich 20 war, wurde die Firma meines Vaters niedergebrannt. Ich fing dann an, als Schneiderin zu arbeiten, um unsere Familie zu ernähren. Gleichzeitig habe ich versucht, für den Fortschritt in Afghanistan zu arbeiten: Während der ersten fünf Jahre unter Taliban-Herrschaft gelang es mir, eine nicht-offizielle Schule für Mädchen und Jungen aufzubauen. Die meisten meiner Schüler*innen waren Kriegswaisen. Ich werde jetzt nicht aufgeben.
Was sind die Pläne Ihrer Kolleg*innen, Familienangehörigen und Freund*innen?
Zum Glück sind alle meine Kolleg*innen und Freund*innen noch in Afghanistan. Einige von ihnen wollen gehen. Es ist aber schwer zu sagen, wie sie das konkret machen werden, da es keine Evakuierungsflüge mehr gibt. Die meisten von uns wollen so schnell wie möglich wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehren.
Was hoffen Sie für die Zukunft?
Ich hoffe, Afghanistan wird friedlich und unabhängig – und dass die Menschen die Möglichkeit haben, ein besseres Leben als bisher zu führen. Ich hoffe, dass die internationale Gemeinschaft uns nicht im Stich lässt und dass sich unser Land weiterentwickeln kann, dank guter diplomatischer, wirtschaftlicher, sozialer und akademischer Auslandsbeziehungen. Es ist wichtig, dass die internationalen Medien weiter über die Situation in unserem Land berichten – und dass die Stimmen der Afghan*innen weiterhin gehört werden.
* Der Name wurde aus Sicherheitsgründen geändert
Interview: Fabio Ghelli
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