Mediendienst Integration: Sie haben in Ihrer Studie an Schulen in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt geforscht. Fühlten sich die Schulen nach den Erfahrungen von 2015-2016 auf den Umgang mit den aus der Ukraine geflüchteten Schüler*innen vorbereitet?
Kollender: Für uns war auffällig und überraschend in beiden Bundesländern, dass die Fluchtmigration aus der Ukraine – wie bereits 2015-2016 – als etwas gesehen wurde, das unvorhersehbar auf die Schulen einbrach. Die Ankunft der Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine wurde nicht als ein selbstverständlicher Teil der Aufgabe von einem Schulsystem bearbeitet, das sich an den migrationsgesellschaftlich verändernden Realitäten ausrichten muss.
Woran kann das liegen?
Kollender: Unter anderem steht dieses erneute kurzfristige Reagieren im Zusammenhang mit Förderpolitiken der Länder und Kommunen in Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz. Zum Beispiel gab es 2015-2016 Fördermittel, um DaZ-Klassen (Anm. d. Red.: DaZ = Deutsch als Zweitsprache) einzurichten und zusätzliche Lehrkräfte einzustellen, die dann aber nach einiger Zeit wieder entlassen werden mussten, weil diese Maßnahmen nur temporär vorgesehen waren. Im Kontext des Ukraine-Krieges mussten sich die Schulen dann erneut auf die Suche nach Lehrkräften und Fördermitteln begeben. Auch diese Stellen und Mittel sind temporär vorgesehen und werden vermutlich bald wieder eingestellt. So kann sich keine Kontinuität einstellen, sondern nur ein permanentes Arbeiten im Krisenmodus.
Ellen Kollender ist Professorin für Inklusion und Diversität an der Leuphana Universität Lüneburg.
Dorothee Schwendowius ist Professorin für Internationale und Interkulturelle Bildungsforschung am Institut für Bildung, Beruf und Medien der Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg. Sie forscht zu Bildung und Zugehörigkeit in Migrationsgesellschaften.
Was könnte man besser machen? Welche Handlungsempfehlungen würden Sie aus Ihrer Forschung ableiten?
Kollender: Es braucht schulische Gesamtkonzepte, die Flucht nicht als Sonderfall ansehen, sondern als selbstverständlichen Teil der Schulkultur mitdenken – Konzepte der inklusiven, diskriminierungskritischen Schulentwicklung. Es braucht aber auch eine langfristige Ressourcenausstattung und nicht die aktuelle temporäre Form der Unterstützung. Wichtig sind auch Fortbildung, Austausch und Reflektion innerhalb der Schulcommunity. Ein solcher Austausch fällt aufgrund der immer wieder proklamierten fehlenden Zeit und Kapazitäten oft hinten runter. Dies erscheint mir fatal.
Schwendowius: Und gleichzeitig müsste es nicht nur eine Entwicklung in den einzelnen Schulen geben, sondern auch auf Ebene der Schuladministration. Es greift zu kurz, den Appell nur an die einzelnen Schulen zu richten, dass sie sich doch stärker diskriminierungskritisch weiterentwickeln mögen. Diese Schulentwicklung funktioniert nur, wenn sie von einer entsprechenden Bildungs- und Sozialpolitik gestützt wird.
Was sind die größten Unterschiede, wenn wir die Situation der von Ihnen untersuchten Schulen in Bezug auf die Fluchtmigrationen 2015-2016 und 2022 vergleichen?
Schwendowius: Einer der größten Unterschiede, der in beiden Bundesländern immer wieder hervorgehoben wurde, war die Frage der Rückkehrperspektive. Die Lehrkräfte berichteten uns zum Zeitpunkt der Interviews, dass es für die geflüchteten Kinder aus der Ukraine und ihre Familien oft nicht klar sei, ob sie wieder zurückgehen oder bleiben würden. So sei es für die Kinder schwer, eine Zukunftsperspektive in Deutschland zu entwickeln und einen Sinn darin zu sehen, Deutsch zu lernen. Das könne auch zu einer Verweigerungshaltung führen.
Kollender: Dass manche Lehrkräfte darauf verweisen, dass die ukrainischen Schüler*innen nicht besonders motiviert seien, bedeutet auch, die Verantwortung für die wahrgenommenen Herausforderungen im Schulalltag zu individualisieren. Wenn die Inklusion in den Regelklassen nicht klappt, wird das in dieser Logik auf eine fehlende Motivation der Schüler*innen zurückgeführt, statt die Verantwortung der Lehrkräfte und Schulen zu sehen, inklusive Bildungsräume herzustellen.
Auch 2015 wurde überlegt, wie man Unterricht inklusiver gestalten könnte. Welche Konzepte für den inklusiven Unterricht in den Regelklassen werden genutzt?
Schwendowius: Diese Frage ist seit 2015-2016 in vielen Schulen nicht wirklich beantwortet. Denn oft wird Unterrichtsorganisation immer noch so gedacht, dass vorn eine Lehrkraft steht, die 30 Schüler*innen unterrichtet, von denen ein Teil neu ins deutsche Schulsystem eingestiegen ist. Das ist natürlich eine unbefriedigende Situation.
Kollender: Dass sich eine nachhaltige, inklusive Gestaltung des Regelunterrichts immer noch nicht durchgesetzt hat, zeigt sich besonders bei der Einbeziehung von Schüler*innen mit Fluchtgeschichte in den Regelunterricht. Große Lern- oder Veränderungsprozesse konnten wir hier nicht verzeichnen.
Schwendowius: Unser Eindruck aus den Interviews ist, dass die Lehrkräfte erleichtert sind, wenn irgendwann das DaZ-Material ankommt. Das bearbeiten die Schüler*innen dann eigenständig innerhalb der Regelklasse. Es ist aber fraglich, ob man an dieser Stelle von inklusivem Unterricht sprechen kann. Es fehlt an Konzepten, wie Unterricht in solchen Lerngruppen anders gestaltet werden kann. Wichtig wären hier zum Beispiel veränderte Formen der Kooperation und der Einbindung von DaZ-Lehrer*innen.
Sind "Ankunftsklassen" dann doch eine bessere Lösung?
Schwendowius: Sie bringen andere Probleme mit sich. Die separate Beschulung begünstigt oft eine schulinterne Segregation der Schüler*innen. In den ukrainischen Ankunftsklassen konnte zudem kein Unterricht in allen Fächern gewährleistet werden. Und die Ankunftsklassen waren ja immer nur als Übergangsmodell gedacht. Schulen hatten auch im Schuljahr 2022-2023, als wir die Interviews geführt haben, keine Antworten auf die Frage, wie der Übergang von den Ankunftsklassen in die Regelklassen gestaltet werden soll. Wenn man viele Schüler*innen eines bestimmten Alters in einer Ankunftsklasse hat, dann können diese unter Umständen rein zahlenmäßig gar nicht in die Regelklassen integriert werden. Und dann müssen die Kinder wieder die Schule wechseln. Das birgt unter Umständen zusätzliche Schwierigkeiten für ihre Schulkarrieren.
Ukrainische Geflüchtete haben einen anderen rechtlichen Status mit mehr Rechten als andere Geflüchtete. Wie hat sich das im schulischen Kontext niedergeschlagen?
Kollender: Die Lehrkräfte, mit denen wir gesprochen haben, teilten die Wahrnehmung, dass dem Krieg in der Ukraine auch bildungspolitisch eine andere Gewichtung zugeschrieben wurde. Für sie entstand der Eindruck, dass es mehr Bereitschaft von politischer Seite gab, zu intervenieren und zu investieren. Außerdem wurden von behördlicher Seite Ad-Hoc-Entscheidungen getroffen, die vorher für so gut wie unmöglich gehalten wurden, beispielsweise die schnelle und unbürokratische Einstellung von ukrainischen Lehrkräften in den Schuldienst. Ihnen wurde zugeschrieben, dass sie die Kinder in einer Weise auffangen konnten, wie es vorher niemandem möglich war.
Schwendowius: Für die Lehrkräfte aus Syrien hingegen gab es damals langwierige Verfahren der Nachqualifizierung. Viele konnten am Ende nicht auf der gleichen beruflichen Statusebene unterrichten, sondern sind in niedriger qualifizierten Jobs gelandet. Eine neue Regelung war jetzt auch, dass es für ukrainische Schüler*innen die Möglichkeit gab, nachmittags am Online-Unterricht aus der Ukraine teilzunehmen und dort Schulabschlüsse zu erwerben. Allerdings sehen wir in den Interviews, dass die parallele Teilnahme an zwei Schulsystemen schwierig ist, wenn diese bei der Gestaltung der Curricula nicht miteinander kooperieren. Schulen versuchen dann, Schüler*innen von dieser "Doppelbelastung" zu entlasten. Das kann aber auch bedeuten, dass sie dadurch dann schlechtere Chancen haben, in Deutschland einen höheren Schulabschluss zu erlangen.
Die Beschulungsstruktur in Deutschland wird oft als flickenteppichartig beschrieben. Gilt das auch für die Konzepte zur Beschulung neu Zugewanderter in Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt?
Kollender: Es gibt schon Unterschiede. In Rheinland-Pfalz gibt es ein sogenanntes teilintegratives System mit DaZ-Klassen, in denen Schüler*innen Unterricht in Deutsch als Zweitsprache erhalten. Diese Klassen besuchen die geflüchteten Schüler*innen in der Regel vormittags und gehen dann in die Regelklassen. Das hat sich seit der Fluchtzuwanderung 2015-2016 etabliert und ist ein flächendeckendes System. Sogenannte Ankunfts- oder Willkommensklassen gibt es hier nicht.
Schwendowius: In Sachsen-Anhalt gab es 2022 zwei Modelle, zwischen denen die Schulen wählen konnten: Eine Variante waren die Ankunftsklassen – also Klassen, die im Kontext des Ukraine-Krieges für ukrainische Schüler*innen eingerichtet wurden und nach Möglichkeit auch mit ukrainischsprachigen Lehrkräften ausgestattet wurden. Die andere Variante war das teilintegrative Modell. Jedoch kam es auch vor, dass Schulen zwar das teilintegrative Modell praktizieren wollten, doch aufgrund einer plötzlichen Zuweisung von vielen geflüchteten Schüler*innen keine andere Möglichkeit sahen, als Ankunftsklassen einzurichten.
Ist es möglich, eine qualitative Bewertung vorzunehmen, was sich besser eignet: teilintegrative Maßnahme oder Ankunftsklassen?
Kollender: Mit beiden Praktiken verbinden sich mehr oder weniger subtile Ausschlüsse vom Regelschulsystem. In den Schulen mit teilintegrativem Modell in Rheinland-Pfalz wurde vielfach kritisiert, dass die Willkommensklassen eine Form der Beschulung darstellen, die zu Segregation führen kann. Schüler*innen mit Fluchthintergrund würden von den Regelklassen und den Kontakten mit anderen Schüler*innen ferngehalten. Wiederum fällt auf: Das teilintegrative Modell wurde von den Schulen und Pädagog*innen, die wir interviewt haben, wenig hinterfragt, da es in den letzten Jahren zur Routine geworden ist. Dabei eröffnet auch dieses Modell Einfallstore für Diskriminierung und kann dazu führen, dass das Ziel, einen inklusiven Regelunterricht zu gestalten, in den Hintergrund rückt.
Welche Kritikpunkte fallen am teilintegrativen Modell ins Auge?
Kollender: In Rheinland-Pfalz gibt es beispielsweise die behördliche Regelung, dass es zur Einrichtung einer DaZ-Klasse mindestens acht Schüler*innen mit Fluchthintergrund braucht. Wenn es also nicht genug Schüler*innen gibt, kann das dazu führen, dass diese Klassen nicht eingerichtet werden können. Jedoch gibt es nur wenig andere Möglichkeiten, den Deutsch-Erwerb zu unterstützen. Denn es mangelt sowohl an Personal, das die Kinder im Rahmen des Regelunterrichts begleiten könnte als auch an qualifizierter und erfahrener Betreuung in den DaZ-Klassen. Diese werden zum Teil von Vertretungskräften geleitet, die sich vielfach noch im Lehramtsstudium befinden.
Stehen die DaZ-Klassen allen zur Verfügung?
Kollender: An einigen Schulen sind sie nur für ukrainische Kinder vorgesehen, obwohl es auch Kinder aus Syrien, Afghanistan und anderen Herkunftsländern gibt, die ebenfalls Unterstützungsbedarf haben. Dies wird dann zum Teil mit sprachlichen und vermeintlich kulturellen Unterschieden zwischen den Schüler*innengruppen begründet. Diese Argumentation basiert offenbar auf essentialisierenden und zum Teil rassifizierenden Unterscheidungen in Bezug auf geflüchtete Schüler*innen.
Interview: Lisa Erzsa Weil
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