Nach der Machtübernahme durch die Taliban haben einige Staaten angekündigt, afghanische Geflüchtete durch Umsiedlungs-Programme (sogenanntes Resettlement) aufzunehmen. Diese Programme eignen sich vor allem, um besonders schutzbedürftige Menschen wie etwa Frauen, Kinder und Senioren*innen aufzunehmen.
- Kanada will 20.000 Personen aufnehmen (vor allem Frauen in Führungspositionen, LGBTQ-Personen und Journalist*innen).
- Auch Großbritannien will bis zu 20.000 Afghan*innen ins Land holen (besonders Aktivist*innen oder Personen, die von den Taliban aufgrund ihres Geschlechts, ihrer Religion oder ihrer sexuellen Orientierung verfolgt werden).
- Australien hat 3.000 Plätze im jährlichen Flüchtlingskontingent von etwa 14.000 Menschen für Afghan*innen reserviert,
- Auch die USA planen, Geflüchtete aus Afghanistan direkt aufzunehmen. Eine genaue Zahl haben sie bislang noch nicht genannt.
- In Deutschland hat das Bundesinnenministerium 2.600 Afghan*innen eine Aufenthaltszusage erteilt, die sich besonders für Meinungsfreiheit, Demokratie, für Menschen- und insbesondere Frauenrechte engagiert haben. Auch ihre Familien können nach Deutschland kommen. Einige von ihnen befinden sich bereits in Deutschland. Andere sind noch in Afghanistan oder den Nachbarländern.
Nur wenige Geflüchtete wurden in die EU umgesiedelt
Nach Angaben des UN-Flüchtlingswerks UNHCR sind die USA das Land, das zwischen 2015 und 2021 die meisten "Resettlement"-Flüchtlinge aufgenommen hat (rund 205.000 Menschen), gefolgt von Kanada (etwa 64.000 Menschen). Im Verhältnis zur Bevölkerung steht jedoch Schweden auf dem ersten Platz mit mehr als zwei "Resettlement"-Geflüchteten pro tausend Einwohner*innen. Doch Schweden ist in der EU eine Ausnahme. EU-Mitgliedstaaten nehmen vergleichsweise wenige Geflüchtete im Rahmen von Umsiedlungs-Programmen auf (s. Grafik).
Zwischen 2015 und 2020 wurden im Rahmen von "Resettlement"-Programmen rund 100.000 Menschen direkt von EU-Mitgliedstaaten aufgenommen. Zum Vergleich: Im selben Zeitraum haben rund fünf Millionen Menschen zum ersten Mal einen Asylantrag in der EU gestellt. Die meisten von ihnen kamen als sogenannte irreguläre Einwanderer*innen nach Europa.
Auch in Deutschland ist die Zahl der Flüchtlinge überschaubar, die im Rahmen von Umsiedlungs-Programmen aufgenommen wurden: Etwa 14.000 Personen wurden zwischen 2015 und 2020 im Rahmen von "Resettlement" und sonstigen humanitären Aufnahmeprogrammen aufgenommen.
Darüber hinaus kamen knapp 10.000 syrische Geflüchtete als Teil des EU-Türkei-Abkommens aus der Türkei nach Deutschland (sogenannter 1:1 Mechanismus). Einige Hunderte Geflüchtete wurden zudem in dieser Zeit im Rahmen von landeseigenen Aufnahmeprogrammen aufgenommen – etwa in Berlin, Brandenburg, Hamburg, Schleswig-Holstein und Thüringen.
Was ist "Resettlement"?
Sogenannte Resettlement-Programme sind Aufnahme-Programme für besonders schutzbedürftige Menschen. Sie werden meistens von nationalen Asyl- und Migrationsbehörden in Zusammenarbeit mit internationalen Organisationen wie etwa dem UN-Flüchtlingswerk UNHCR oder der Internationalen Organisation für Migration (IOM) ausgeführt.Quelle
In der Regel müssen sich Menschen bereits als Flüchtlinge in einem anderen Land als ihrem Herkunftsland aufhalten, um Anspruch auf einen "Resettlement"-Platz zu haben. Der UNHCR oder andere Organisationen identifizieren besonders schutzbedürftige Fälle vor Ort. Die Antragstellenden werden dann interviewt. Der UNHCR wählt anschließend die Fälle mit den besten Erfolgschancen aus. Diese werden an die nationalen Asylbehörden sowie an Sicherheitsbehörden weitergeleitet, die die Fälle erneut einzeln prüfen und bei Bedarf weitere Interviews führen.Quelle
In Deutschland können Geflüchtete durch eine Vielzahl von Programmen aufgenommen werden:
- Humanitäre Aufnahmeprogramme (z.B. für syrische Geflüchtete in der Türkei),
- Flüchtlings-Kontingente, wie etwa bei syrischen Geflüchteten im Libanon und Jordanien,
- Das "Resettlement"-Programm der Europäischen Union (Union Resettlement Framework)
- Landeseigene Aufnahmeprogramme – zum Teil in Kooperation mit privaten Sponsoren,
- Pilotprogramm "Neustart im Team" (NesT), das Privatpersonen beziehungsweise Organisationen ermöglichen soll, Geflüchtete aus Erstaufnahmeländern aufzunehmen.Quelle
Flüchtlinge, die durch "Resettlement" und andere humanitäre Aufnahmeprogramme nach Deutschland kommen, müssen keinen Asylantrag stellen. Sie bekommen in der Regel einen Aufenthaltstitel für drei Jahre. Anders als bei anerkannten Flüchtlingen können "Resettlement"-Flüchtlinge nur in Ausnahmefällen Partner*innen oder Kinder nachziehen lassen. Ihr Aufenthalt kann auch an bestimmte Bedingungen geknüpft sein, wie etwa, dass in Deutschland lebende Familienangehörige ihre Lebensunterhaltskosten übernehmen.Quelle
"Resettlement" muss zuerst aufgebaut werden
Die EU-Mitgliedstaaten wollen Ende September 2021 über ein mögliches Aufnahme-Programm für afghanische Flüchtlinge diskutieren. Die Migrationskommissarin der Europäischen Union Ylva Johansson hat bereits dafür plädiert, dass die EU-Mitgliedstaaten mehr afghanische Flüchtlinge direkt aufnehmen.
Es ist allerdings unwahrscheinlich, dass ein derartiges Programm zeitnah Wirkung zeigen wird. Umsiedlungs-Programme benötigen eine komplexe Infrastruktur. Schutzbedürftige Personen müssen in den Erstaufnahmeländern identifiziert und interviewt werden, um sie schließlich zu überstellen, sagt Hanna Schneider, Migrationsforscherin an der Freien Universität Brüssel. Diese Infrastruktur sei in Afghanistans Nachbarländern derzeit nicht vorhanden.
Auch würde ein "Resettlement"-Programm nur einem Teil der Geflüchteten helfen, sagt Schneider. "Solche Programme sind dennoch extrem wichtig, weil sie vor allem den Menschen helfen können, die es alleine nicht schaffen würden, sich in Sicherheit zu bringen – wie etwa Alleinerziehenden, Kindern oder kranken Menschen."
Wie erfolgreich ein "Resettlement"-Programm für afghanische Flüchtlinge sein wird, hänge maßgeblich davon ab, wie aufnahmebereit die EU-Mitgliedstaaten sind, sagt Roland Bank, Leiter der Abteilung "Protection" beim UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR. "Ein 'Resettlement'-Programm für afghanische Flüchtlinge aus den Nachbarstaaten wäre sehr wünschenswert", so Bank. "Es würde uns einerseits ermöglichen, besonders schutzbedürftigen Menschen zu helfen. Andererseits wäre es ein Zeichen der Solidarität gegenüber den Erstaufnahmeländern wie etwa Pakistan und dem Iran, die etwa 90 Prozent der afghanischen Flüchtlinge weltweit beherbergen."
Ob sich die EU-Mitgliedstaaten dazu verpflichten werden, ist fraglich. Schon lange vor der Afghanistan-Krise hat die Europäische Kommission angefangen, für mehr Umsiedlungs-Programme zu werben – mit begrenztem Erfolg. 80.000 Menschen wollten die EU-Mitgliedstaaten zwischen 2018 und 2020 aufnehmen. Eingereist sind in dieser Zeit lediglich 50.000.
Von Fabio Ghelli
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