Die Sonnenallee steckt voller Widersprüche: Die Kinderarmut liegt doppelt so hoch wie im Berliner Durchschnitt. Gleichzeitig etablieren sich immer mehr Läden, die sich an ein hippes und gut verdienendes Publikum richten. Die Sonnenallee gilt als "arabische Straße", obwohl ihre Bevölkerung sehr divers ist.
Welche Ereignisse haben Neuköllns bekannteste Straße geprägt, die immer wieder als Beispiel für "gescheiterte Integration" genannt wird? Wie entwickelt sie sich heute? Miriam Stock, Juniorprofessorin für Cultural Studies an der Pädagogischen Hochschule Schwäbisch Gmünd, hat aus Anlass einer Pressetour des MEDIENDIENSTES eine Expertise zu diesen Fragen verfasst.
Die vollständige Expertise finden Sie >> hier als pdf.
Migration nach Nord-Neukölln
Die Gegend um die Sonnenallee ist ausgesprochen divers. Etwa jede zweite Person hat einen Migrationshintergrund. In den siebziger Jahren zogen viele Libanesen und staatenlose Palästinenser nach West-Berlin, auf der Flucht vor dem libanesischen Bürgerkrieg (1975-1990). Asyl erhielten sie nur selten. Auch konnten sie nicht abgeschoben werden aufgrund des anhaltenden Krieges und fehlender Pässe. Deshalb lebten sie teils jahrelang mit Duldungen in West-Berlin.
Die oft mittellosen Geflüchteten ließen sich vorwiegend in günstigen Arbeiterquartieren nieder. So beherbergte Neukölln im Jahr 2012 rund 19,5 Prozent aller arabischstämmigen Migranten in Berlin. Die Duldung brachte teils jahrelange Arbeitsverbote mit sich. Erst 1987 entschied sich der Senat in West-Berlin für eine Altfallregelung, die vielen libanesischen Bürgerkriegsflüchtlingen eine Aufenthaltsgenehmigung ermöglichte. In den vergangenen Jahren sind viele Flüchtlinge aus Syrien hinzugekommen. Sie sind mittlerweile die größte Gruppe unter arabischsprachigen Migranten in Berlin.
Auch wenn sie das Straßenbild und die Außenwahrnehmung bestimmen – unter den Bewohnern Nord-Neuköllns sind Menschen mit arabischem Hintergrund nicht die größte Gruppe. Bei ausländischen Staatsangehörigen dominieren Menschen mit einem türkischen Pass. Ihre hohe Zahl geht auf den Zuzug türkischer "Gastarbeiter" zurück.
Nach der Wende kamen viele Zuwanderer aus Osteuropa, allen voran aus Rumänien und Bulgarien, nach Neukölln. Mit der Wirtschaftskrise 2007 und der Gentrifizierung zogen schließlich junge Zuwanderer aus Spanien, Italien oder Griechenland in den Stadtteil. Hinzu kam der anhaltende Zuzug junger Personen aus anderen deutschen Städten, die Nord-Neukölln aufgrund des Rufes als "Szeneviertel" attraktiv finden.
Zwischen Arbeiterbezirk, sozialem Abstieg und Szenekiez
In den fünfziger und sechziger Jahren galt Nord-Neukölln als Arbeiterbezirk – mit seinen ansässigen Industrien im Chemie-, Elektro-, Bekleidungs- und Brauereibereich. Im Jahr 1970 herrschte im Bezirk Vollbeschäftigung, und viele deutsch-deutsche Arbeiterfamilien zogen aufgrund ihres steigenden Einkommens in bessere moderne Wohnungen, während andere deutsch-deutsche Arbeiter und türkeistämmige "Gastarbeiter" in die sanierungsbedürftigen Gründerzeitbauten und Sozialwohnungen zogen. Arabischstämmige Zuwanderer zogen nach.
In den neunziger Jahren zogen viele Industrien fort oder wurden geschlossen. Damit ging die Arbeitslosigkeit im Bezirk stark nach oben. Neukölln wurde immer mehr zu einem Stadtteil mit sozialen Problemen. Im Jahr 2002 lag die Arbeitslosigkeit im Stadtteil bei 20 Prozent.
Zugleich hatten sich zu dieser Zeit schon Künstler, Kulturprojekte und Planungsbüros rund um den Reuterplatz angesiedelt. Aufgrund der steigenden Mieten im angrenzenden Kreuzberg wurde der Norden Neuköllns als Wohngebiet für junge Studierende, Kreative und Akademiker immer attraktiver. Das von Immobilienfirmen und Stadtteilmagazinen so vermarkte "Kreuzkölln" wurde immer populärer, viele Altbauten wurden saniert und teuer vermietet.
Spätestens mit dem Zuzug von syrischen Geflüchteten nach Berlin beschleunigte sich die Revitalisierung und weitere Vermarktung der Sonnenallee als "Arabischer Straße". So expandierten viele der Geschäfte und Restaurants und zahlreiche neue Lebensmittelläden, Restaurants, Cafés und Bars wurden eröffnet.
Vermarktungsstrategien auf der Sonnenallee
Die Geschäfte auf der Sonnenallee verfolgen unterschiedliche Verkaufsstrategien. Einerseits prägen Shisha-Bars und Hähnchenrestaurants die arabische Gastronomie auf der Sonnenallee. Andererseits wenden sich Szene-Falafelläden an ein junges, vielfältiges Publikum. Seit 2015 sind auf der Sonnenallee viele neue Restaurants hinzugekommen, die selbstbewusst eine "syrische Küche" bewerben und neue Gerichte sowie Servierformen nach Berlin bringen.
Sie sind Journalist*in und haben weitere Fragen oder suchen Fachleute zum Thema? Dann können Sie uns gern kontaktieren. Wir helfen schnell und unkompliziert. Unsere Texte und Grafiken können kostenfrei unter den Regeln der Creative Commons und unserer Namensnennung verwendet werden. Dies gilt nicht für Bilder und Fotos, die wir von Dritten erworben haben.