Wenn Sicherheitsbehörden Einblicke erhalten wollen in islamistische Strukturen, ermitteln sie Kontaktdaten. Wer hat mit wem gesprochen? Wer hat sich mit wem getroffen? Problematisch wird es, wenn diese Daten sich verselbständigen, schreibt der Ethnologe Werner Schiffauer in einer Expertise für den MEDIENDIENST. Das heißt wenn also nur noch in den Blick gerät, dass kommuniziert wird. Aber nicht, was.
Die Konstruktion von Kontaktschuld folgt der Logik von Ansteckungen, so Schiffauer. Eine Organisation X wird auf Grund ihrer Kontakte zur Organisation Y oder der Person Z der Muslimbruderschaft zugerechnet. In Folge sind auch alle anderen Organisationen, die zu X Kontakt haben oder hatten, belastet. Dies gelte auch rückwirkend.
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Die Kontaktschuld spiele vor allem im Umgang mit dem sogenannten „legalistischen Islamismus“ eine Rolle. Die Hauptbetroffenen seien die Reformer_innen aus diesen Gemeinden. Also diejenigen, die für eine Öffnung gegenüber der Gesellschaft eintreten. Aktivitäten, wie die Teilnahme an Friedensgebeten oder an Deradikalisierungsmaßnahmen sind laut Schiffauer in den Gemeinden nicht unumstritten und müssen zum Teil gegen Skeptiker und Konservative aus den eigenen Reihen durchgesetzt werden. Wenn auf Grund von Kontaktschuld derartige Initiativen gestoppt werden, werde denjenigen Recht gegeben, die es von Anfang an "besser wussten".
Schiffauer beschreibt mehrere Fallbeispiele, darunter folgendes: Aus einer Initiative des Runden Tischs für ausländische Gefangene Berlin ist ein Projekt zur Gefängnissseelsorge hervorgegangen. Es wurde vom Islamforum aufgegriffen. Eine "Elite von Brückenbauern" aus verschiedenen am Runden Tisch beteiligten Gemeinden habe sich zwei Jahre lang qualifiziert, um die Initiative umzusetzen. Sie wurde 2013 gestoppt, weil in letzter Minute Bedenken seitens des Verfassungsschutzes geäußert wurden. "Die Tatsache, dass mehrere Beteiligte den falschen Gemeinden angehörten, erwies sich als wichtiger als das über Jahre hinaus im Islamforum und bei der Zusammenarbeit aufgebaute Vertrauen", schreibt Schiffauer. Die Betroffenen hätten keine Möglichkeit, Stellung zu den Vorwürfen zu nehmen.
Kontakte werden immer nur belastend verwendet, nicht entlastend
Es sei nicht grundsätzlich falsch, aus Kontakten auf weltanschauliche Nähe zu schließen. Was dabei nicht berücksichtigt werde, sei dass auch die Umkehrung gilt: Über soziale Kontakte können auch in sich geschlossene Weltbilder aufgebrochen und Tendenzen zur Isolation durchbrochen werden. Bezeichnend sei, dass Kontaktdaten offenbar nur belastend, aber nicht entlastend verwendet werden: A hat sich in einer als islamistisch klassifizierten Organisation engagiert – also ist er mit den Zielen dieser Organisation einverstanden. Oder umgekehrt: Jemand, der aus der als islamistisch charakterisierten Organisation X entstammt, hat sich bei der Gründung der weltoffen auftretenden Organisation Y beteiligt – also ist Y verdächtig.
Welche Rolle spielt der Verfassungsschutz für eine Misstrauenskultur?
Das gesellschaftspolitische Problem besteht darin, dass durch die Informationspolitik des Verfassungsschutzes eine Verdachtskultur gefördert wird, schreibt Schiffauer. Der nicht weiter spezifizierte Verweis auf "Bezüge" von Organisationen oder auf "Erkenntnisse" lädt gerade durch die Vagheit zu Spekulationen ein, so der Ethnologe.
Das Fazit von Schiffauer: Die Konstruktion von Kontaktschuld leistet einer Kultur des Misstrauens und des Verdachts Vorschub. Sie zerstört Ansätze für Kooperation und entmutigt Brückenbauer und Reformer aus den Gemeinden. Sie fördert die Isolation von Gemeinden und trägt damit zur Desintegration der Gesellschaft bei. Das Problem sei, dass die Betroffenen so gut wie keine Möglichkeit hätten, sich dagegen zu wehren.
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