Mediendienst: Am 16. Juli 2013 wurde das Avicenna-Studienwerk in die Liste der Begabtenförderungswerke aufgenommen, die vom Bundesbildungsministerium anerkannt werden. Wie kam es zur Gründung?
Hakan Tosuner: Das deutsche Begabtenförderungssystem hat den Anspruch, alle gesellschaftlich signifikanten Akteure abzubilden. Ein katholisches und ein evangelisches Studienwerk gab es bereits, seit fünf Jahren auch ein jüdisches. Einige junge Muslime haben sich dann gefragt: „Warum gibt es kein muslimisches Begabtenförderungswerk? Wir sind doch eine signifikante Gruppe in der Gesellschaft!“.
Warum braucht es ein muslimisches Studienwerk?
Mit den Begabtenförderungswerken unterstützt der deutsche Staat bestimmte gesellschaftliche Strömungen, ihren Nachwuchs zu fördern. Es ist keinesfalls ein muslimischer Sonderweg, sondern es geht um die Gleichbehandlung religiöser Akteure in Deutschland.
Was erhoffen Sie sich vom Avicenna-Studienwerk?
Leider ist der Anteil der muslimischen Studierenden immer noch gering. Da hoffen wir, bildungspolitisch etwas bewirken zu können. Wir möchten zudem ein positives Signal an die Mehrheitsbevölkerung senden und mit Erfolgsstorys zeigen, dass Muslime motiviert und engagiert sind in unserer Gesellschaft.
Welche Rolle soll die konfessionelle Ausrichtung spielen?
Laut Bildungsministerium soll sich unser religiöses Profil im ideellen Programm widerspiegeln. Das bedeutet für ein muslimisches Förderwerk natürlich, das Thema Islam und Muslime zu behandeln. Wir verstehen uns als Spiegelbild der muslimischen Community hier und wollen versuchen, die Vielfalt des Islams in Deutschland abzubilden. Daher haben wir nicht eine bestimmte Ausrichtung des Islams bei uns, sondern arbeiten mit vielen verschiedenen Akteuren zusammen und wollen auch die Stipendien entsprechend vergeben.
Was verbirgt sich hinter dem Namen Avicenna?

HAKAN TOSUNER hat an der Europa-Universität Viadrina zum Thema Migration und Religion in Deutschland geforscht, arbeitete als Tour-Guide im Jüdischen Museum Berlin und ist Diversity-Trainer. Seit 2013 leitet er die Geschäftsstelle des Avicenna-Studienwerks.
Der Universalgelehrte Avicenna, der um 1000 n. Chr. lebte, symbolisiert, wofür das Förderwerk steht: exzellente Wissenschaft, Übernahme von Verantwortung und muslimischer Glaube. Außerdem hat er als Brückenbauer zwischen der sogenannten muslimischen und christlichen Welt gewirkt. Seine Werke wurden bis ins 18. Jahrhundert an europäischen Universitäten gelehrt. In diesem Sinne sind wir sehr glücklich mit der Namensgebung.
Wie groß ist das bisherige Interesse an den Stipendien?
Bis Ende April sind knapp 600 Bewerbungen eingegangen. 50 davon werden wir auswählen und ab Oktober 2014 als Stipendiaten aufnehmen. Wir hatten mit 250 bis 300 Bewerbungen gerechnet. Die hohe Bewerberzahl ist aus unserer Sicht ein klares Signal, dass es längst überfällig war, ein Förderwerk für muslimische Studierende und Promovierende zu gründen.
Nach welchen Kriterien werden die Stipendiaten ausgewählt?
Die Studierenden und Promovierenden müssen fachlich überdurchschnittlich qualifiziert sein, sozial engagiert und sich dem Islam zugehörig fühlen. Wir haben auch nicht-muslimische Bewerber, die wir unterstützen würden, wenn sie einen islamspezifischen Studienschwerpunkt haben oder sich in besonderem Maß für den Dialog mit dem Islam einsetzen.
Wer bewirbt sich für die Förderung?
Wir haben sehr viel mehr Bewerbungen von Frauen erhalten als von Männern. Insofern wird es wahrscheinlich mehr Stipendiatinnen geben. Ein weiterer wichtiger Punkt: Bei Begabtenförderung denken viele an Elite – das kann abschreckend wirken. Leistung werden wir aber nicht nur anhand eines Zeugnisses bemessen. Wir wollen mit unserem Programm auch Potentiale entdecken und talentierte muslimische Schüler ermutigen, ein Studium aufzunehmen. Mangelnde finanzielle Ressourcen sollten auch kein Grund sein, ein Studium abzubrechen.
Sie wollen also gezielt junge Leute aus sozial schwächeren und bildungsferneren Schichten fördern?
Nicht ausschließlich, aber wir bedenken das bei der Auswahl der Bewerbungen. Es muss nicht immer ein Einser-Abi sein, man kann bestimmte Punkte auch mit sozialem Engagement kompensieren. Die Stipendiaten sollen sich ja idealerweise auch gesellschaftlich einbringen und nicht in der Bibliothek verschanzen.
Wie sieht die ideelle Förderung aus?
In der Wissenschaft möchten wir die Stipendiaten mit den Besten aus ihren Fächern zusammenbringen. Das gesellschaftliche Engagement bildet den zweiten Schwerpunkt. Glaube und Islam wäre dann der dritte Pfeiler. In allen drei Schwerpunkten werden wir "Summer Schools", Seminare und Vorträge anbieten, aber auch Reisen und Sprachkurse. Wir haben die Bewerber gefragt, womit sie sich auseinandersetzen wollen, welche Persönlichkeiten sie kennenlernen wollen. So bekommen wir eine Idee, was unsere zukünftigen Stipendiaten interessiert.
Interview: Jenny Lindner
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