Seit 2005 erfasst das Statistische Bundesamt im Mikrozensus den „Migrationshintergrund“. Er ist eine wichtige Kategorie in Statistik und Forschung, etwa wenn es um die Teilhabe am Arbeitsmarkt und im Bildungssystem geht. Seit Jahren mehrt sich die Kritik am „Migrationshintergrund“: Die Erfassung sei sehr kompliziert, werfe zu viel durcheinander, bilde die Lebensrealitäten vieler Menschen nicht ab und sei zudem stigmatisierend. Eine zentrale Kritik: Es gehe nicht wirklich um Migration. Viele Personen, die in der Statistik einen Migrationshintergrund haben, seien nicht selbst zugewandert – und lebten teilweise schon in der dritten Generation in Deutschland.
Vergangenes Jahr hat die Fachkommission Integrationsfähigkeit – die von der Bundesregierung einberufen wurde – vorgeschlagen, den Migrationshintergrund aufzugeben. Er solle ersetzt werden durch „Eingewanderte und ihre Nachkommen“. Das Statistische Bundesamt hat darauf jetzt reagiert:
Was ist neu?
Das Statistische Bundesamt führt eine neue Kategorie ein, aktueller Arbeitstitel ist „Menschen mit Einwanderungsgeschichte“. In Zukunft fallen darunter:
- Personen, die selbst zugewandert sind
- Personen, deren Eltern beide zugewandert sind
Laut dem Soziologen Coskun Canan vom Statistischen Bundesamt seien Rückkehrer*innen ausgeschlossen: Also etwa eine Person mit deutschem Pass, die 10 Jahre in Portugal gelebt hat, nach Deutschland zurückkehrt. Eine weitere Besonderheit: Personen, die vor 1950 zugewandert sind, zählen nicht als Zugewanderte, darunter die Vertriebenen des Zweiten Weltkriegs. Die Kategorie sei sonst relativ deutlich und somit weitaus einfacher als der „Migrationshintergrund“.
Werden zusätzliche Daten erhoben?
Das Statistische Bundesamt wird keine zusätzlichen Daten erheben. Mit den bisherigen Fragen, die im Rahmen des Mikrozensus gestellt werden, erhält es alle Daten, die es für die neue Kategorie braucht. Jedoch wird es eine neue gesonderte Publikation zu „Menschen mit Einwanderungsgeschichte“ geben. Die erste Veröffentlichung wird laut Bundesamt Anfang 2023 erscheinen und sich auf das Jahr 2021 beziehen. Für manche Fragen könnten auch rückwirkend Zeitreihen erstellt werden, da die Daten für frühere Jahre vorliegen.
Wird der Migrationshintergrund jetzt abgeschafft?
Nein. Ganz ersetzt – wie von der Fachkommission Integrationsfähigkeit empfohlen – wird der Migrationshintergrund zunächst nicht: Laut Statistischem Bundesamt sei es wichtig, die Kategorie weiterzuführen, damit man Entwicklungen über die Jahre weiter beobachten könne. Die zentrale Publikation „Bevölkerung mit Migrationshintergrund“ wird es weiter geben.
Dadurch gibt es zunächst eine Parallelstruktur. Nach einer Testphase von ein oder mehreren Jahren wird das Bundesamt die Änderungen auswerten und sehen, ob es weiterhin eine Doppelstruktur gibt, oder nur eine der Kategorien weitergeführt wird, so Canan.
Wie war nochmal die Definition des „Migrationshintergrundes“?
Laut Statistischem Bundesamt hat eine Person einen "Migrationshintergrund", wenn "sie selbst oder mindestens ein Elternteil die deutsche Staatsangehörigkeit nicht durch Geburt besitzt." Einen "Migrationshintergrund" haben damit zum einen Ausländer*innen, zum anderen aber auch Deutsche, die zum Beispiel einen Elternteil mit ausländischer Staatsbürgerschaft haben, Spätaussiedler*innen und Eingebürgerte. Weitere Inforamtionen finden Sie hier.
Wie unterscheidet sich „Eingewanderte und ihre Nachkommen“ und „Personen mit Migrationshintergrund“?
Migration ausschlaggebend: Beim „Migrationshintergrund“ geht es darum, ob Personen oder deren Eltern mit ausländischer Staatsbürgerschaft geboren wurden oder nicht – das heißt die Nationalität ist ausschlaggeben dafür, ob eine Person als mit oder ohne Migrationshintergrund gezählt wird. Bei „Einwanderern und ihren Nachkommen“ geht es nun darum, ob Personen oder beide Eltern zugewandert sind oder nicht. Wichtig ist also, ob sie Erfahrungen mit Migration gemacht haben. Wenn etwa ein Kind deutscher Staatsbürger*innen im Ausland auf die Welt kommt und dann nach Deutschland zuwandert, fällt es unter "Eingewanderte und ihre Nachkommen", aber nicht unter "Migrationshintergrund".
Keine „einseitige“ Migrationserfahrung: Die so genannte eiseitige Migrationserfahrung fällt weg. Das heißt, Personen tauchen nur in der Statistik auf, wenn sie selbst oder beide Eltern zugewandert sind. Das war auch der Vorschlag der Kommission Integrationsfähigkeit. Die Begründung: Statistisch gesehen machen Menschen mit nur einem zugewanderten Elternteil ähnliche Erfahrungen wie Personen, deren Eltern beide aus Deutschland kommen – etwa wenn es um die Unterstützung für die Schule geht.
Dritte Generation fällt raus: Beim „Migrationshintergrund“ war es möglich, dass auch die dritte Generation einen Migrationshintergrund hat. Also wenn Eltern in Deutschland mit ausländischer Staatsangehörigkeit geboren wurden, hatten auch die Kinder einen Migrationshintergrund, obwohl die Eltern nicht selbst zugewandert waren. Das ist in der neuen Definition „Eingewanderte und ihre Nachkommen“ nicht der Fall.
Einfachheit: Die neue Definition ist deutlich klarer und kompakter als der „Migrationshintergrund“. Um den zu erheben, werden im Mikrozensus 19 Fragen dafür genutzt, den Migrationshintergrund zu erheben.
International anschlussfähig: Laut Statistischen Bundesamt arbeiten auch andere Länder mit der Definition. Damit seien die Daten international vergleichbar.
Um viele Personen geht es?
In einem Interview erklärte die Sozialanthropologin Anne-Kathrin Will für 2018: Der Mikrozensus zählte 2018 rund 20,8 Millionen Menschen mit "Migrationshintergrund". Rechnet man die 2,99 Millionen Personen heraus, die nur einen eingewanderten Elternteil haben und die 119.000 Personen dazu, die mit deutschem Pass im Ausland geboren sind, kommt man auf 18,1 Millionen Eingewanderte und ihre Nachkommen.
Werden Fragen zu Diskriminierungserfahrungen erhoben?
Nein. Zwar ist eine Kritik am Migrationshintergrund, dass er Diskriminierungserfahrungen nicht abgedeckt: Denn Personen, die Rassismus erfahren, fallen oft nicht unter die Kategorie des Migrationshintergrundes. Eine Möglichkeit wäre, die Selbstidentifikation der Befragten abzufragen. Aktuell ist dies laut Canan nicht geplant, wird jedoch auch im Bundesamt weiter diskutiert. Für solche Daten muss aktuell auf andere Erhebungen zurückgegriffen werden, wie der Afrozensus, der die Lebensrealitäten Schwarzer Menschen in Deutschland abfragte.
Was ändert sich für den Mediendienst?
Auch der Mediendienst schafft Doppelstrukturen. Jede Rubrik wird es jetzt zweimal geben.
Was ist die Kritik am Migrationshintergrund? (kann man auch weglassen)
Die wichtigsten Kritikpunkte:
- Die Erfassung des „Migrationshintergrundes“ ist sehr kompliziert. Hinzu kommt, dass das Statistische Bundesamt zwar eine Definition hat, aber andere Statistiken teils mit anderen Definitionen arbeiten – etwa in der Schulstatistik. Somit sind Daten oft nicht vergleichbar.
- Personen mit „Migrationshintergrund“ sind eine sehr heterogene Gruppe, mit sehr unterschiedlichen Lebenserfahrungen: Menschen, die in der dritten Generation in Deutschland leben werden zusammengezählt mit Personen, die neu zugewandert sind.
- Die Staatsangehörigkeit und die Migrationserfahrung von Personen werden vermischt.
- Der Begriff Migrationshintergrund wird oft stigmatisierend verwendet. Viele Personen, die so bezeichnet werden, identifizieren sich nicht damit, jedoch ist es schwer, dem zu entkommen.
- Der Migrationshintergrund mache Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen nicht sichtbar.
Wichtige Quellen
Fachkommission Integrationsfähigkeit (2021): "Gemeinsam dieEinwanderungsgesellschaft gestalten" // LINK
Statistisches Bundesamt (2021): "Bevölkerung mit Migrationshintergrund" // LINK
Mediendienst (2021): "Migrationshintergrund", einfach erklärt // LINK
Anne-Kathrin Will (2018): "Wer hat einen "Migrationshintergrund"?" – Expertise für den Mediendienst // LINK
Interview mit Anne-Kathrin Will (2021): "Wird der Migrationshintergrund jetzt abgeschafft?" // LINK
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