Die Radikalisierung des NSU
"Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus", M. Quent (2016)
Bis heute ist nicht vollständig aufgeklärt, unter welchen Umständen die Mitglieder des NSU zu rechten Terroristen wurden. In der Studie "Rassismus, Radikalisierung, Rechtsterrorismus. Wie der NSU entstand und was er über die Gesellschaft verrät" untersucht der Soziologe Matthias Quent die Radikalisierung von Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe. Zudem arbeitet er heraus, inwiefern struktureller Rassismus dazu geführt hat, dass staatliche Institutionen so lange die rechtsextremen Motive der Mordserie ignorierten. Quellen seiner Untersuchung sind behördliche Dokumente und Berichte von Untersuchungsausschüssen und aus dem Strafverfahrens gegen Beate Zschäpe.
Quent zeichnet die Radikalisierung folgendermaßen nach: Aus einer zufällig zusammengefundenen freizeitorientierten Jugendclique haben sich die NSU-Mitglieder zu Terroristen entwickelt. Böhnhardt, Mundlos und Zschäpe lernten sich im Jenaer "Winzerclub" kennen, einem wichtigen Treffpunkt für rechtsextreme Jugendliche. Sie waren teilweise bereits vorher als gewalttätig aufgefallen und entwickelten im Jugendclub laut Quent ein "rechtsextremistisches Selbstverständnis". Nach eigener Aussage nahmen sie die Nachwendezeit als "quasi gesetzfreien Raum" wahr. Auch Probleme in der Familie und Schule scheinen eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Doch trotz allem betont Quent, dass diese Entwicklung nicht vorgezeichnet war. Nicht jeder ostdeutsche Jugendliche mit familiären Problemen hat sich nach dem Fall der Mauer radikalisiert. Und die Biographie von Mundlos zeige, dass auch eine Radikalisierung auch ohne Konfliktbiographie möglich sei.
Quent stellt fest, dass Behörden in den 90er Jahren das Gewaltpotenzial von rechtsextremen Bewegungen unterschätzten. Doch auch die migrantische Zivilgesellschaft wurde in ihren Ängsten vor einer rassistischen Mordserie nicht ernst genommen. Außerdem kritisiert Quent den Verfassungsschutz. Sein Versagen beruhe nicht nur auf Fehlern oder Unzulänglichkeiten, sondern sei vor allem struktureller Natur: „Tatsächlich lagen umfangreiche Informationen über Strukturen und Straftaten der Rechtsextremen des NSU vor und insbesondere der Verfassungsschutz war durch verschiedene V-Personen nicht zu weit weg, sondern eher zu nah am Terrornetzwerk dran.“
Die Perspektive der Betroffenen
"Die haben gedacht, wir waren das", K. Bozay/B. Aslan u.a. (2016)
Der Sammelband "Die haben gedacht, wir waren das. MigrantInnen über rechten Terror und Rassismus" möchte einen Perspektivwechsel vornehmen: Die Beiträge stammen von Betroffenen, Journalisten, Wissenschaftlern, Politikern, NGO-Mitarbeitern und Aktivisten, die alle Migrationshintergrund haben.
Der Sozialwissenschaftler Kemal Bozay macht Vorschläge, wie politische Bildung über den NSU an Schulen aussehen könnte. "Warum schweigt die griechische Community?", fragt der Autor Miltiadis Oulios und spekuliert, dass die meisten Griechen sich als "unauffällige Minderheit" in Deutschland sehen – trotz rassistischer Erfahrungen. Mit dem NSU wurden "blinde Flecken" in der Berichterstattung über rassistische Gewalt aufgedeckt, bemerkt die Journalistin Ebru Taşdemir selbstkritisch.
Rechtsextremismus in Ostdeutschland
"Generation Hoyerswerda", H. Kleffner/A. Spangenberg (Hg.) (2016)
Welche Verbindungen zum NSU-Komplex gab es in Brandenburg? Und welche Netzwerke bestehen dort bis heute? Das sind Themen des Sammelbands „Generation Hoyerswerda. Netzwerke militanter Neonazis in Brandenburg“, den die Journalistin Heike Kleffner und die Geschäftsführerin des brandenburgischen "Aktionsbündnisses gegen Gewalt, Rechtsextremismus und Fremdenfeindlichkeit", Anna Spangenberg, herausgegeben haben. Das sächsische Hoyerswerda wurde 1992 von Neonazis als „erste ausländerfreie Stadt“ ausgerufen und steht damit symbolisch für rassistische Bewegungen der 90er Jahre.
Die Autoren machen darauf aufmerksam, dass die Spuren des NSU auch nach Brandenburg führen. Die Anfänge rechtsextremer Bewegungen liegen dort noch in der Vorwendezeit, erklärt der Politikwissenschaftler Gideon Botsch. Jugendliche Skinhead-Gruppen politisierten sich ab Mitte der 80er Jahre und es gab Kontakte zur rechtsextremen Szene in der Bundesrepublik. Die Beiträge von Heike Kleffner und Journalist Dirk Laabs befassen sich mit dem brandenburgischen V-Mann Carsten Szczepanski (Deckname "Piatto"). Dieser hatte enge Kontakte zu sächsischen Rechtsextremisten, die zeitweise die NSU-Terroristen versteckten. Außerdem hätten mithilfe seiner Informationen die NSU-Terroristen eventuell bereits 1998 festgenommen werden können, so die Rechtsanwältin Antonia von der Behrens in ihrem Beitrag.
Weitere Literatur zum NSU-Komplex
"Unsere Wunden kann die Zeit nicht heilen", B. John (Hg.) (2014)
Die Ombudsfrau für die Opfer des NSU-Terrorismus und ihre Hinterbliebenen, Barbara John, hat diesen Band herausgegeben: Betroffene berichten über ihre Wahrnehmung und Gefühle vor und nach den NSU-Anschlägen. Der MEDIENDIENST hat Auszüge aus dem Buch veröffentlicht.
"Heimatschutz. Der Staat und die Mordserie des NSU", S. Aust/D. Laabs (2014)
Die Journalisten Stefan Aust und Dirk Laabs decken die Beziehungen zwischen Verfassungsschutz und rechtsextremer Szene von 1992 bis 2011 auf. Die Quellen für dieses umfangreiche Buch (864 Seiten) sind die Berichte der Untersuchungsausschüsse, Zeugenaussagen und Interviews.
"Von Mauerfall bis Nagelbombe", Dostluk Sineması (Hg.) (2014)
Zum zehnten Jahrestag des Bombenanschlags in der Kölner Keupstraße, präsentierte ein Sammelband der Kölner Gruppe "Dostluk Sineması" Berichte von Augenzeugen und Interviews mit Anwohnern. Einige Zitate hat der MEDIENDIENST in einem Artikel veröffentlicht.
"Schmerzliche Heimat", S. Şimşek mit P. Schwarz (2013)
Die Tochter von Enver Şimşek beschreibt, wie der Mord an ihrem Vater und die jahrelangen Verdächtigungen ihr Leben geprägt haben.
"Das Zwickauer Terror-Trio", M. Baumgärtner/M. Böttcher (2012)
2012 haben die Journalisten Maik Baumgärtner und Marcus Böttcher eine der ersten Chronologien zu den Aktivitäten des NSU veröffentlicht.
Von Jenny Lindner
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