Der Politikwissenschaftler Mahmoud Jaraba forscht seit vielen Jahren im Milieu der arabisch-türkischen beziehungsweise kurdischen Großfamilien (sogenannte Mḥallamīya). Er hat Mitglieder der Familien über mehrere Jahre hinweg begleitet und interviewt. Ebenso sprach er mit Sicherheitsbehörden und Sozialarbeiter*innen. In einer Expertise (2023) für den MEDIENDIENST stellt er die Ergebnisse seiner Forschung vor. Aus der Expertise ergaben sich folgende Hinweise für die Berichterstattung:
BEI DER RECHERCHE
Bei der Recherche sollte die Geschichte sowie Lebenssituation der Großfamilien berücksichtigt werden. Aus der Forschung ergeben sich insbesondere folgende Punkte:
1. Die ursprünglich nahen Verwandtschaftsverhältnisse der Großfamilien haben sich über die Jahrzehnte ausdifferenziert. Heute kennen sich die meisten Familienmitglieder untereinander nicht.
2. Die Großfamilien sind keine zusammenhängende, homogene Gruppe. Es gibt auch keine zentrale Führungsperson des jeweiligen Gesamt-„Clans“.
3. Anders als medial und polizeilich dargestellt findet Kriminalität nicht innerhalb der „Clans“ statt, sondern innerhalb von „Sub-Sub-Clans“. Auf dieser Ebene gibt es starke Solidaritäts- und Zusammengehörigkeitsgedanken und teilweise auch zentrale Führungspersonen.
4. Nur wenige Angehörige der Großfamilien sind kriminell. Sie erhalten überproportional viel Aufmerksamkeit von Medien und Politik und suchen diese oft auch aktiv. Viele andere Angehörige der Großfamilien kritisieren diese Kriminalität.
5. Die als „Clans“ bezeichneten Großfamilien blicken auf eine lange Geschichte von Marginalisierung und Ausgrenzung zurück – sowohl in ihren Herkunfts- als auch Zufluchtsländern. In Deutschland erleben sie erhebliche Diskriminierung im Alltag, in der Schule, auf dem Arbeits-, Ausbildungs- und Wohnungsmarkt sowie durch die Polizei.
Mehr zur Forschung finden Sie hier (PDF). Ein Kurzvortrag zur Forschung finden Sie hier (Video). Der Mediendienst vermittelt für die Berichterstattung Kontakte zu Expert*innen innerhalb von 30 Minuten.
IM ARTIKEL
1. Viele Mitglieder der betroffenen Großfamilien empfinden den Begriff „Clan“ als stigmatisierend und lehnen ihn ab. Die Begriffe "Clan" und „Clankriminalität“ sollten kritisch hinterfragt werden.
2. "Arabische/türkische/kurdische Großfamilien“ sollten nicht pauschal mit der Kriminalität einiger Familienangehöriger in Verbindung gebracht werden. Nur wenige Angehörige von Großfamilien sind kriminell. Straftaten werden entweder von Einzelperson oder innerhalb eines bestimmten "Sub-Sub-Clans" oder verwandtschaftsunabhängig vorbereitet und verübt. Der Großteil der Familienangehörigen distanziert sich von kriminellem Verhalten.
3. Pauschalisierungen der Großfamilien sollten vermieden werden, denn sie haben Konsequenzen: Ihre Angehörigen fühlen sich stigmatisiert und erfahren erhebliche Diskriminierung in der Schule, auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt.
4. Journalist*innen können über Angehörige von Großfamilien als Mitbürger*innen berichten: Welche Ausbildungen und Jobs haben sie? Welche Diskriminierungserfahrungen haben sie gemacht?
5. Nach Razzien gegen „Clans“ lohnt es sich, bei der Polizei nachzufragen, was Anlass und Ergebnis der Razzia waren.
LINKS & QUELLEN
Presserat Richtlinien zum Thema Herkunftsnennung bei Straftaten
• Richtlinie 12.1. des Pressekodex / Deutscher Presserat, Link
• Praxis-Leitsätze zur Richtlinie 12.1 / Deutscher Presserat, Link
• Recherche-Datenbank, Deutscher Presserat, Link
Clankriminalität / Kriminalität und Migration / Herkunftsnennung
• MEDIENDIENST-Expertise (2023): Clankriminalität / Jaraba
• MEDIENDIENST-Expertise (2021): Clankriminalität / Jaraba
• MEDIENDIENST Integration (2023): Clankriminalität und Polizeiarbeit
• MEDIENDIENST Integration (2023): Kriminalität in der Einwanderungsgesellschaft
• MEDIENDIENST Integration (2023): Wie oft nennen Medien die Herkunft von Tatverdächtigen?
• MEDIENDIENST-Expertise (2022) : Zwischen Stürmerstars und Gewalttätern / Hestermann
• MEDIENDIENST-Expertise (2021): Sollten Medien die Herkunft von Tatverdächtigen nennen? / Walburg, Singelnstein
Von Donata Hasselmann
Sie sind Journalist*in und haben weitere Fragen oder suchen Fachleute zum Thema? Dann können Sie uns gern kontaktieren. Wir helfen schnell und unkompliziert. Unsere Texte und Grafiken können kostenfrei unter den Regeln der Creative Commons und unserer Namensnennung verwendet werden. Dies gilt nicht für Bilder und Fotos, die wir von Dritten erworben haben.