Dieser Artikel ist ursprünglich am 26.4.2023 erschienen und wurde am 20.12.2023 aktualisiert.
Als "ausländisch" wahrgenommene Personen werden doppelt so häufig von der Polizei kontrolliert wie solche, die nicht als ausländisch wahrgenommen werden. Das zeigt eine neue Studie des Sachverständigenrats für Integration und Migration. Demnach wurden 8 Prozent der Befragten, die angeben, dass man sie aufgrund ihres Körpers oder ihrer Kleidung als ausländisch wahrnimmt, im Vorjahr von der Polizei kontrolliert. Unter den Menschen, die schätzen, dass man sie nicht als fremd wahrnimmt, waren es nur halb so viele (4 Prozent).Quelle
In einer weiteren repräsentativen Studie von 2023 gaben 33 Prozent der Schwarzen Menschen in Deutschland an, dass sie in den vorangegangenen fünf Jahren von der Polizei kontrolliert wurden. Mehr als die Hälfte von ihnen (57 Prozent) empfanden die letzte Kontrolle als diskriminierendes Racial Profiling.Quelle
Die gesamte Daten- und Studienlage zum Thema "Racial Profiling" finden Sie hier.
Aktuelles Bundespolizeigesetz begünstigt Racial Profiling
Nach Ansicht von Expert*innen begünstigt das aktuelle Bundespolizeigesetz Racial Profiling – also Kontrollen, bei denen die Polizei Menschen wegen ihrer Hautfarbe, Haarfarbe oder anderer äußerer Merkmale kontrolliert, ohne dass es einen konkreten Verdacht gegen sie gibt.
Laut Paragraf 22 und 23 des Bundespolizeigesetzes soll die Bundespolizei unerlaubte Einreisen verhindern. Dafür darf sie in Zügen, an Bahnhöfen, Flughäfen und im Grenzgebiet Personen kontrollieren. Laut Gesetz braucht es dafür keinen konkreten Verdacht wie etwa, dass eine Person sich auffällig verhält. Um vermeintlich unerlaubte Einreisen festzustellen, greifen Polizist*innen in der Praxis auch auf äußerliche Merkmale wie die Haut- oder Haarfarbe zurück. Im Jahr 2022 führte die Bundespolizei knapp 2,3 Millionen verdachtsunabhängige Kontrollen durch. Bei rund 47.000 Personen stellten die Beamt*innen unerlaubte Einreisen oder Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz fest.Quelle
Auch verschiedene Landespolizeigesetze erlauben, dass Polizeibeamt*innen Personen an "gefährlichen Orten" nach dem Ausweis fragen. "Solche verdachtsunabhängigen Kontrollen sind ein Einfallstor für Racial Profiling", sagt der Kriminologe Tobias Singelnstein. Die Gesetze würden den Beamt*innen große Spielräume eröffnen bei der Entscheidung, wen sie kontrollieren. "Wenn man das vermeiden will, müssen Polizeigesetze klare Kriterien dafür vorschreiben, wann Kontrollen erlaubt sind", sagt Singelnstein.
Neues Bundespolizeigesetz sieht Kontrollquittungen vor
Das Kabinett hat im Dezember 2023 einen Entwurf für eine Reform des Bundespolizeigesetzes beschlossen. Der Entwurf sieht vor, im Gesetz "Kontrollquittungen" zu verankern. Das heißt: Wer kontrolliert wird, kann damit von den Beamt*innen eine Bescheinigung über die Kontrolle erhalten. "Kontrollquittungen zwingen Polizist*innen zu reflektieren, warum sie eine bestimmte Person angehalten haben", sagt Singelnstein. "Beim Ausfüllen fragen sich die Beamt*innen idealerweise, ob sie die Auswahl auch aufgrund eigener Vorurteile oder Stereotype getätigt haben." Diese Reflexion sei enorm wichtig.Quelle
Betroffene können mit den Quittungen ihre Erfahrungen nachweisen und sichtbar machen. "Befragungen zeigen, dass anlasslose Polizeikontrollen für viele People of Colour zum Alltag gehören. Von Seiten der Polizei heißt es dagegen immer wieder, es handele sich um Einzelfälle", so Singelnstein.
In welchen Bundesländern gibt es Kontrollquittungen?
Bremen ist das einzige Bundesland, das Kontrollquittungen ausstellt. Dort können Personen seit 2021 eine Bescheinigung über Durchführung und Grund der Kontrolle erhalten, wenn die Polizei sie an sogenannten besonderen Kontrollorten anhält. Auch Sachsen plant Kontrollbescheinigungen, der genaue Zeitpunkt der Umsetzung ist jedoch noch unklar. Nordrhein-Westfalen prüft ebenfalls, ob die Polizei auf Wunsch Kontrollquittungen ausstellen kann.
Die Bremer Beamt*innen müssen bei den verdachtsunabhängigen Kontrollen eine Bescheinigung anbieten. Auch für die Reform des Bundespolizeigesetzes schlagen die Ampelfraktionen vor, dass die Beamt*innen Personen über ihr Recht auf eine Kontrollquittung belehren müssen. In Bremen nehmen kontrollierte Personen das bislang kaum an: Im Jahr 2022 stellte die Polizei dort lediglich 36 Kontrollquittungen aus. Auch der Entwurf zur Reform des Bundespolizeigesetzes sieht lediglich vor, dass die Polizei die Quittungen auf Verlangen ausstellt und die kontrollierten Personen auf ihr Recht auf eine Quittung hinweist. "Solche Bescheinigungen sind nur dann ein wirksames Instrument, wenn im Gesetz vorgeschrieben ist, dass sie bei jeder Kontrolle verpflichtend ausgestellt werden müssen", sagt Kriminologe Singelnstein. Ansonsten bestehe die Gefahr, dass Kontrollierte die Quittungen aus Unwissenheit oder Angst nicht verlangen oder weil sie die Kontrollsituation möglichst schnell verlassen wollen.
Weniger Kontrollen durch Quittungen
Erfahrungen aus dem Ausland zeigen: Kontrollquittungen können dazu beitragen, dass die Polizei insgesamt weniger verdachtsunabhängig kontrolliert. Im Rahmen eines Pilotprojekts wurden in der spanischen Stadt Fuenlabrada Kontrollquittungen eingeführt. Daraufhin ging die Zahl der verdachtsunabhängigen Kontrollen um mehr als die Hälfte zurück. Zudem sank der Anteil der Kontrollen, die mutmaßlich aufgrund äußerer Merkmale erfolgten: Während Marokkaner*innen zunächst 9,6 Mal häufiger kontrolliert wurden als Spanier*innen, fiel die Rate innerhalb von sechs Monaten auf 3,4. Die Kontrollen waren außerdem effektiver als zuvor: Der Anteil der Kontrollen, bei denen die Polizist*innen tatsächlich Verstöße feststellten, stieg.Quelle
Ob auch in Bremen die Zahl der verdachtsunabhängigen Kontrollen und damit möglicherweise auch Racial Profiling zurückgegangen ist, seit die Quittungen eingeführt wurden, ist unklar, weil es dazu keine Daten gibt. "Das Problem in Deutschland ist, dass Daten zu Polizeikontrollen nicht systematisch erfasst werden", sagt Polizeiforscherin Daniela Hunold. Wegen der fehlenden empirischen Erkenntnisse zu Racial Profiling werde immer wieder behauptet, rassistische Polizeikontrollen gebe es in Deutschland nicht. In Großbritannien und New York hingegen werden verdachtsunabhängige Kontrollen der Polizei systematisch protokolliert. Die Daten sind öffentlich zugänglich und belegen: Angehörige von Minderheiten, insbesondere Schwarze Menschen, werden unverhältnismäßig oft von der Polizei kontrolliert. "Kontrollquittungen sind daher eine wichtige Datenquelle für die Forschung zu Racial Profiling", sagt Hunold.Quelle
Quittungen schaffen Racial Profiling nicht ab
Expert*innen gehen davon aus, dass auch durch Kontrollquittungen Racial Profiling nicht aus der Welt ist. "Die Bescheinigungen könnten zwar dazu führen, dass es weniger diskriminierende Kontrollen gibt", sagt Hendrik Cremer vom Deutschen Institut für Menschenrechte (DIMR). "Aber allein damit wäre Racial Profiling nicht verschwunden. Wenn die Polizei weiterhin das Recht hat, Menschen ohne konkreten Anlass zu kontrollieren, würde sie durch Quittungen nur möglicherweise seltener Gebrauch davon machen", sagt Cremer. Das DIMR fordert, die Paragrafen in Polizeigesetzen zu streichen, die anlasslose Kontrollen ermöglichen.
Nach Ansicht des Kriminologen Singelnstein könnte man alternativ auch eine Zufallsauswahl einführen: So könnten Polizist*innen etwa bei grenzüberschreitenden Zügen jeden hundertsten Passagier kontrollieren. Zusätzlich brauche es flächendeckend rassismuskritische Aus- und Fortbildungen in der Polizei, um Vorurteile und Stereotypen abzubauen. Viele Polizist*innen gingen immer wieder davon aus, dass Menschen of Colour Ausländer*innen seien. Deswegen kontrolliere die Polizei sie, um vermeintlich unerlaubte Einreisen festzustellen. "Es fehlt oft das Verständnis dafür, dass diese Personen vielleicht schon in der zweiten oder dritten Generation oder noch länger hier leben und Deutsche sind.
Von Miriam Kruse und Sophie Thieme
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