Im März 2016 einigten sich die Staats- und Regierungschefs der Europäischen Union (EU) auf ein Abkommen mit der Türkei. Flüchtlinge, die über die Türkei nach Griechenland eingereist sind, sollen wieder dorthin zurückgebracht werden. Gleichzeitig soll für jeden Syrer, der in die Türkei zurückgeschickt wird, ein anderer Syrer legal in die EU einreisen dürfen. Die EU hat der Türkei bis 2018 sechs Milliarden Euro zugesagt, um die Geflüchteten besser versorgen zu können.
Menschenrechtsorganisationen kritisieren jedoch: Die Lage der Flüchtlinge habe sich seit dem Abkommen nicht etwa verbessert, sondern deutlich verschlechtert. Auf den griechischen Inseln seien mehrere Tausend Geflüchtete gestrandet, ohne Zugang zu fairen Asylverfahren. Flüchtlinge, die in die Türkei zurückgeführt wurden, seien dort nicht sicher, sondern würden inhaftiert und zum Teil in ihre Herkunftsländer abgeschoben. "Pro Asyl" bezeichnet das Abkommen als "menschenverachtenden Großversuch", bei dem die Rechte der Flüchtlinge keine Rolle spielten. Der "EU-Türkei-Deal" müsse deshalb aufgehoben werden.
Auch Wissenschaftler fordern die Beendigung des Abkommens. Aber wie könnte die Flüchtlingspolitik der EU stattdessen aussehen? Drei internationale Migrationsforscher haben für den MEDIENDIENST Alternativen skizziert:
"Wir brauchen eine globale Flüchtlingspolitik"
Petra Bendel, Professorin für Politikwissenschaften an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Der EU-Türkei-Deal bietet keine nachhaltige Lösung zur Frage, wie Europa mit dem Zuzug von Flüchtlingen umgehen kann. Eine zukunftsfähige EU-Flüchtlingspolitik müsste vier Ebenen berücksichtigen: 1. Auf internationaler Ebene muss sich die EU noch stärker für einen "Globalen Pakt für Flüchtlinge" einsetzen. Wir brauchen eine globale Verantwortungsteilung. 2. Kooperiert die EU mit Drittstaaten wie der Türkei, darf sie sich dabei nicht ihrer menschen- und flüchtlingsrechtlichen Verantwortung entziehen. Stattdessen muss sie sicherstellen, dass sich die Partnerländer an rechtliche Vorgaben halten, Schutzsuchende also zum Beispiel nicht in Länder zurückweisen, in denen ihnen Gefahren drohen. Zudem muss die EU Drittstaaten dabei unterstützen, eigene Asylsysteme mit hohen Standards zu entwickeln, und sie dazu anhalten, diese Standards einzuhalten. Hierfür kann sie unabhängige Kontrollorgane einführen. 3. Die EU muss mehr legale Zuwanderungswege schaffen. Neben dem sogenannten Resettlement – also der Neuansiedlung von Flüchtlingen aus Drittstaaten – wären humanitäre Visa, subsidiärer Schutz oder andere Formen des vorübergehenden Schutzes möglich. 4. Die EU muss dringend vermeiden, dass die bereits erreichten Standards der Asylverfahren in den Mitgliedstaaten verwässert werden. Die derzeit verhandelte Neuauflage des "Gemeinsamen Europäischen Asylsystems" läuft Gefahr, genau das zu tun: Sie behält das überkommene Dublin-Prinzip bei, nach dem das Erstaufnahmeland für die Prüfung eines Asylantrags zuständig ist. Zudem beschränkt sie das Recht eines Mitgliedstaats, das Asylverfahren durchzuführen, auch wenn er laut Dublin nicht dafür zuständig ist. Die geplanten Reformen beschneiden die Rechte für Asylsuchende und verschärfen Sanktionen für irreguläre Weiterwanderungen innerhalb Europas.
"Offene Grenzen sind realistischer als gedacht"
Harald Bauder, Professor für Geographie an der Ryerson University, Toronto (Kanada)
Der Politik mangelt es an Kreativität, sich die Regulierung von Flucht und Migration grundlegend anders vorzustellen. Ein häufig genanntes, jedoch selten ernsthaft diskutiertes Szenario ist das der offenen Grenzen. Es sieht vor, dass sich Menschen frei über nationalstaatliche Grenzen hinweg bewegen können. Anders als oft angenommen ist diese Idee keine utopische Forderung linkspolitischer Kräfte. Im Gegenteil wird sie aus den verschiedensten ideologischen Lagern heraus befürwortet. Offene Grenzen zwischen der EU und der Türkei würden aber tiefgreifende strukturelle Veränderungen in anderen Politikbereichen erfordern. So müsste etwa der Zugang zu Sozial- und Gesundheitssystemen neu geregelt werden. Wie das gelingen kann, zeigt das Beispiel der sogenannten Städte der Zuflucht. Das sind Städte und Gemeinden, die Geflüchtete aufnehmen und sich dabei mitunter den Regelungen des jeweiligen Nationalstaates widersetzen. Unabhängig vom Aufenthaltsstatus bieten sie allen Einwohnern den gleichen Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen. Zugehörigkeit wird hier also nicht über die nationalstaatliche, sondern über die lokale Ebene definiert. Entsprechende Initiativen gibt es bereits, sowohl auf internationaler als auch auf europäischer Ebene.
"Die EU wäre durchaus in der Lage, Flüchtlinge aufzunehmen"
Zeynep Kıvılcım, Rechtswissenschaftlerin und Gastprofessorin an der Universität Göttingen und der Humboldt-Universität zu Berlin
Das EU-Türkei-Abkommen soll Flüchtlinge daran hindern, nach Europa einzureisen. Die EU wäre jedoch durchaus in der Lage, Schutzsuchende aufzunehmen – sowohl wirtschaftlich als auch demografisch. Ihre Politik sollte daher nicht auf die Abschottung, sondern auf den Schutz von Geflüchteten setzen. Hierfür braucht es keine neuen Regelungen: Mit der sogenannten "Massenzustromrichtlinie" hat die EU bereits im Jahr 2001 die nötige Rechtsgrundlage geschaffen. Sie gründete auf der Erfahrung der 90er Jahre, in denen zahlreiche Flüchtlinge aus dem ehemaligen Jugoslawien nach Europa gekommen waren. Laut der Richtlinie kann der Rat der EU beschließen, dass Europa mit einem "Massenzustrom" von Flüchtlingen konfrontiert ist, die nicht in ihre Herkunftsländer zurückgeschickt werden können. Die Mitgliedstaaten müssen den Geflüchteten dann für mindestens ein Jahr vorübergehenden Schutz gewähren. In dieser Zeit haben sie Zugang zum Arbeitsmarkt, zu Wohnraum und Sozialleistungen sowie die Möglichkeit, Asyl zu beantragen. Die EU sollte diese Richtlinie umsetzen, denn die hohe Zahl von syrischen Schutzsuchenden entspricht genau dem Fall, für den die Regelung gedacht war. Gleichzeitig sollte die Türkei die Situation von Syrern im Land verbessern. Derzeit haben lediglich Flüchtlinge aus Europa die Möglichkeit, Schutz nach der "Genfer Flüchtlingskonvention" zu erhalten. Nicht-europäischen Geflüchteten kann ein "conditional refugee status" gewährt werden, der es ihnen ermöglicht, in ein anderes Land umgesiedelt zu werden. Syrische Schutzsuchende sind davon jedoch ausgenommen: Mit Ausnahme einzelner besonders schutzbedürftiger Personen können sie sich nicht beim UN-Flüchtlingshilfswerk registrieren lassen, um in einem anderem Land Zuflucht zu finden. Diese Regelung verstößt sowohl gegen die türkische Verfassung als auch gegen internationales Flüchtlingsrecht und sollte daher dringend aufgehoben werden.
Hinweis: Der Text wurde aus dem Englischen übersetzt.
Text und Zusammenstellung: Jennifer Pross
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