Als im April die Corona-Pandemie besonders heftig wütete, kamen kaum noch Schutzsuchende nach Europa: Gerade mal 78 Menschen wurden in Griechenland registriert, 500 in Spanien und weniger als 700 in Italien. In den Folgemonaten ist die Zahl der Ankünfte zwar gestiegen, aber auf vergleichsweise niedrigem Niveau. Ein Blick auf die drei wichtigen Fluchtrouten im Mittelmeer zeigt: Nicht die Angst vor Corona hält Geflüchtete davon ab, nach Europa zu gelangen. Es sind vielmehr die strengen und häufig rechtswidrigen Grenzkontrollen, sowohl auf türkischer, libyscher als auch auf europäischer Seite.
Östliche Mittelmeer-Route (Türkei-Griechenland)
An der Grenze
Die meisten Geflüchteten auf der östlichen Mittelmeer-Route werden von der türkischen Küstenwache aufgegriffen und zurück in die Türkei gebracht. Weniger als die Hälfte der Menschen erreicht die griechischen Inseln. Dabei handelt es sich vor allem um Afghan*innen (rund 40 Prozent) und Syrer*innen (etwa 25 Prozent).Quelle
Viele Geflüchtete werden zudem von der griechischen Küstenwache zurückgewiesen (sogenannte Pushbacks). Einem Investigativbericht der "New York Times" zufolge hat die griechische Küstenwache mehr als 1.000 Geflüchtete in Schlauchbooten auf hoher See ausgesetzt. Das UN-Flüchtlingswerk UNHCR hat diese Praxis scharf kritisiert, denn sie verstößt gegen das "non-refoulement"-Prinzip der Genfer Flüchtlingskonvention sowie gegen die Europäische Menschenrechtskonvention.
Im März 2020 hat die Regierung in Athen beschlossen, für einen Monat keine Asylanträge anzunehmen. Ein weiterer einmonatiger Anträge-Stopp folgte im Mai. Außerdem hat die griechische Regierung weitere Verschärfungen bereits angekündigt: Sie will eine 2,7 Kilometer lange schwimmende Barriere vor der Insel Lesbos errichten, um die Fluchtmigration zu stoppen.
Das Hotspot-System
Im Jahr 2019 ist die Zahl der Geflüchteten in den Hotspots auf den griechischen Inseln stark gestiegen. Rund um die Aufnahmeeinrichtungen auf den Inseln haben sich Slums gebildet, in denen Gewalt und Krankheiten verbreitet sind. Die Aufnahmeeinrichtungen sind Ziel rechtsextremer Gewalt geworden. Im März 2020 hatte die griechische Regierung angefangen, verstärkt Menschen aus den Inseln auf das Festland zu überstellen. Etwa 240 unbegleitete Minderjährige wurden zudem aus den griechischen Inseln auf sieben EU-Mitgliedstaaten verteilt. Deutschland hat angekündigt, zusätzlich 294 kranke Kinder mit ihren Familien, aufzunehmen. Die Einrichtungen auf den Inseln bleiben jedoch extrem überfüllt. Wegen der Präventionsmaßnahmen gegen Covid-19 dürfen Geflüchtete nur bedingt die Lager verlassen.
Zentrale Mittelmeer-Route (Nordafrika-Italien/Malta)
An der Grenze
2019 ist die Zahl der Menschen, die über das zentrale Mittelmeer nach Italien und Malta gelangt sind, zurückgegangen. Das lag unter anderem daran, dass ein Großteil der Bootsflüchtlinge von der libyschen Küstenwache aufgegriffen wurde. Im Sommer 2020 ist die Zahl derjenigen, die über das zentrale Mittelmeer nach Europa gekommen sind, wieder gestiegen.
Ein Grund: Es kommen vermehrt Menschen aus Tunesien. Etwa 40 Prozent der Menschen, die 2020 Italien erreicht haben, waren Tunesier*innen (Stand: 31. Juli 2020). Seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie – und dem darauffolgenden Kollaps der Tourismus-Branche – steckt das Land in einer tiefen Wirtschaftskrise. Viele Menschen versuchen nach Europa zu gelangen – sowohl arbeitslose Tunesier*innen als auch viele der etwa 75.000 Migrant*innen im Land.
Derzeit patrouillieren zwei Schiffe von Seenotrettungs-Organisationen – die "Sea Watch 4" und die "Louise Michel" – im zentralen Mittelmeer. Mehrere Seenotrettungs-Boote wurden in Italien beschlagnahmt – angeblich wegen technischer Mängel. Die europäische Mission "Irini", Nachfolgerin der Mission "Sophia", ist nur bedingt an Rettungs-Operationen beteiligt. Sie beschäftigt sich in erster Linie mit der Bekämpfung des Waffenschmuggels.
Die zentrale Mittelmeer-Route ist nach wie vor die gefährlichste Route im Mittelmeer. Seit Anfang 2020 hat die Internationale Organisation für Migration 359 Todesfälle auf der Route dokumentiert. Die genaue Zahl der Opfer ist unbekannt. Im Vergleich zum Vorjahr hat sich die Zahl der Verstorbenen auf der Route mehr als halbiert.Quelle
Das Hotspot-System
Schiffe, die Geflüchtete an Bord haben, finden nur schwer einen "sicheren Hafen" in Italien und Malta. Schon vor der Covid-19-Pandemie mussten Schiffe mit Hunderten Geflüchteten am Bord mehrere Wochen warten, bis sie ans Land gelassen wurden.
Derzeit müssen Geflüchtete, die Italien erreichen, zunächst auf einem Quarantäne-Schiff beziehungsweise in geschlossenen Quarantäne-Einrichtungen in Sizilien bleiben. Nach Angaben des italienischen Asylrechts-Anwält*innen-Verein ASGI seien die Lebensbedingungen in den geschlossenen Einrichtungen sehr belastend für die Geflüchteten. Einige Hunderte Geflüchtete sind aus zwei Hotspots in Sizilien ausgebrochen.
Westliche Mittelmeer-Route (Nordwestafrika - Spanien)
An der Grenze
Nachdem sie 2018 zur Hauptroute nach Europa geworden war, kommen derzeit deutlich weniger Menschen über die westliche Mittelmeer-Route nach Spanien. Zum einen liegt das daran, dass Spanien und Marokko im Februar 2019 ein Abkommen zur Steuerung der Fluchtmigration unterzeichnet haben. Demnach werden Geflüchtete, die bei gemeinsamen Operationen der spanischen und marokkanischen Kräften auf hoher See gerettet werden, zurück nach Marokko gebracht. Zum anderen soll es seit dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie strengere Kontrollen an den Grenzen geben, wie die NGO "Alarmphone" kürzlich berichtet hat. Die marokkanischen Grenzbehörden sollen viele Schutzsuchende festgenommen haben – vor allem in der Region um die spanischen Exklaven von Ceuta und Melilla. Auch die spanische "Guardia Civil" hat die Grenzkontrollen verstärkt.
Gleichzeitig versuchen mehr Menschen aus Westafrika die Kanarischen Inseln zu erreichen: Zwischen Januar und August 2019 kamen etwas mehr als 500 Menschen über die sogenannte "Atlantische Route" nach Spanien. In den ersten acht Monaten dieses Jahres sind das mehr als 4.000 Menschen (Stand: 30. August 2020). Wegen der schwierigen und unvorhersehbaren Wetterbedingungen im Atlantik gilt diese Route als besonders gefährlich.Quelle
Das Hotspot-System
In Spanien gibt es keine Hotspots. Ankommende Geflüchtete werden von den Ärztinnen und Ärzten des spanischen Roten Kreuzes untersucht und dann in Polizei-Einrichtungen registriert. Daraufhin sollen sie in Erstaufnahmeeinrichtungen (Centros de acogida de refugiados, CAR) untergebracht werden. Diese verfügen allerdings nur über etwas mehr als 400 Plätze (Stand: August 2020). Viele müssen deshalb von NGOs versorgt werden – oder landen in der Obdachlosigkeit.Quelle
Von Fabio Ghelli
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