Am 1. Juli 2020 wird Deutschland für sechs Monate die Präsidentschaft des Europäischen Rats übernehmen. In dieser Zeit will die Bundesregierung unter anderem die Reform des "Gemeinsamen Europäischen Asylsystems" vorantreiben. Bereits im Februar dieses Jahres hat das Bundesinnenministerium dafür ein Konzeptpapier erstellt.
Das Papier sieht unter anderem vor, dass Menschen, die Schutz in der Europäischen Union suchen, bereits an den EU-Außengrenzen geprüft werden (initial assessment).
Ganz neu ist das Konzept allerdings nicht. Denn schon jetzt werden viele Menschen, die als Schutzsuchende in die EU kommen, in sogenannten Hotspots auf den griechischen Inseln und in Süditalien festgehalten. Nach dem Konzeptpapier soll dieser Ansatz, der ursprünglich als Reaktion auf die steigenden Flüchtlingszahlen entstanden ist, überall in Europa angewendet werden.
Das Hotspot-System eignet sich jedoch nicht als Vorbild für eine gemeinsame europäische Asylpolitik. Denn fünf Jahre nachdem die Europäische Kommission "Hotspots" eingeführt hat, ist die Bilanz ernüchternd. Mehrere Menschenrechtsorganisationen wie "Amnesty International" und "Human Rights Watch" haben die Lebensbedingungen in den griechischen Hotspots als menschenunwürdig angeprangert. Die Aufnahmeeinrichtungen sind chronisch überfüllt. Es sind Zeltlager entstanden, in denen Gewalt und Krankheiten zum Alltag gehören. Die Gefahr eines Covid-19-Ausbruchs und die darauf folgenden Ausgangssperren haben diese Lage weiter verschärft.
Vor diesem Hintergrund haben mehrere europäische Staaten im vergangenen März beschlossen, schutzbedürftige Kinder von der Insel Lesbos zu evakuieren.
Ein Forscher*innen-Team der Universität Göttingen hat im Auftrag des "Rats für Migration" eine Expertise mit dem Titel "Hotspot-Lager als Blaupause für die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems? Politikfolgenabschätzung des Hotspot-Ansatzes in Griechenland" erstellt.
Unsere Forschung zeigt: Diese Missstände sind nicht dadurch entstanden, dass die zuständigen griechischen Behörden fahrlässig gehandelt haben. Sie sind vielmehr das Produkt eines Systems, das ein schnelles Prüfverfahren versprochen hat – und dennoch für viele Geflüchtete zur Sackgasse geworden ist.
Die ursprüngliche Idee, Schutzsuchende bei der Einreise in die EU zu registrieren, um sie später auf alle EU-Mitgliedstaaten zu verteilen, konnte nicht umgesetzt werden. Dafür gibt es etliche Gründe. Zum einen weigerten sich mehrere EU-Mitgliedstaaten, Flüchtlinge aufzunehmen. Zum anderen steht die EU-Türkei-Erklärung vom März 2016 im Wege.
VALERIA HÄNSEL ist Migrationsforscherin am Institut für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Göttingen. Seit mehreren Jahren untersucht sie die Lebensbedingungen von Geflüchteten auf der östlichen Mittelmeer-Route – vor allem in Griechenland. Sie ist Teil des Forschungsteams vom internationalen Projekt "RESPOND – Multilevel Governance of Mass Migration in Europe and Beyond". Gemeinsam mit dem Migrationsforscher Bernd Kasparek hat sie 2020 eine Expertise zu den griechischen Hotspots erstellt.
Laut der Erklärung sollten "alle neuen irregulären Migranten, die ab dem 20. März 2016 von der Türkei auf die griechischen Inseln gelangen", in die Türkei zurückgeführt werden. Die Türkei galt laut Erklärung als potentieller "sicherer Drittstaat" oder "erster Asylstaat". Das heißt: Bei Asylbewerber*innen mit hoher Schutzbedürftigkeit, die über die Türkei eingereist sind, müssen die Behörden zunächst prüfen, ob der Asylantrag überhaupt "zulässig" ist.
Dennoch: Flüchtlinge haben nach der Genfer Flüchtlingskonvention sowie nach geltendem Europarecht weiterhin das Recht, einen Asylantrag in der EU zu stellen. Die EU-Türkei-Erklärung stand somit unter dem paradoxen Anspruch, alle Asylsuchenden abzuschieben und gleichzeitig ein individuelles rechtsstaatliches Asylverfahren zu gewähren.
Die "Hotspots" sind zu Inhaftierungs-Lagern geworden
Das Ergebnis: Zwar sank 2016 vorübergehend die Zahl der Menschen, die aus der Türkei auf die griechischen Inseln kamen. Sie stieg sehr bald aber wieder an: Von 2016 bis Ende 2019 erreichten 295.388 Personen die griechischen Hotspot-Inseln auf dem Seeweg.
Gleichzeitig blieb die Zahl der Geflüchteten, die zurück in die Türkei abgeschoben wurden, verhältnismäßig gering: Insgesamt wurden unter der EU-Türkei-Erklärung seit dem 18. März 2016 bis Ende 2019 rund 2.000 Personen zurück in die Türkei abgeschoben. Viele von ihnen – vor allem Syrer*innen – konnten dort keinen Schutzstatus erhalten und wurden deshalb zurück nach Syrien rückgeführt.
Etwa 3.400 Menschen verließen die Inseln im Rahmen von geförderten Rückkehrprogrammen.
Und die anderen? Die meisten von ihnen mussten warten, bis ihr Asylantrag bearbeitet wurde. Das dauert in vielen Fällen mehrere Jahre. Besonders schutzbedürftige Menschen wie etwa Minderjährige, traumatisierte Flüchtlinge sowie Familien mit Kindern wurden bis Anfang dieses Jahres zum Teil aufs Festland gebracht. Die neue konservative griechische Regierung hat diese Praxis aufgegeben. Das hat dazu geführt, dass noch mehr Menschen auf den Inseln gefangen sind. Dadurch sind die Lebensbedingungen in den Camps noch schwieriger geworden.
Die Hotspots und die dazugehörigen Unterkünfte, die ursprünglich als temporäre Aufnahmestellen für Geflüchtete gedacht waren, sind somit zunehmend zu Inhaftierungs-Zentren geworden.
Ein weiteres Problem des "Hotspot"-Ansatzes ist, dass es bis heute nicht klar ist, wer für das gesamte System juristisch verantwortlich ist. Mehrere Akteure sind in der Verwaltung der Hotspots involviert: das griechische Asylbüro, die Grenzschutz-Agentur Frontex, das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen EASO. Deshalb ist es schwierig, die involvierten Institutionen für die Zustände vor Ort und mangelhafte Asylprüfungen zur Rechenschaft zu ziehen.
Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung während der deutschen Ratspräsidentschaft die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems vorantreiben will. Doch das Konzeptpapier des Innensministeriums ist dabei kein guter Wegweiser. Die Idee, Schutzsuchende an den Außengrenzen der EU festzuhalten, birgt das Risiko, in vielen Ländern ähnliche Verhältnisse wie auf den griechischen Inseln zu erzeugen – also Menschen zu inhaftieren oder über Jahre in haftähnlichen Zuständen festzusetzen. Das Beispiel der griechischen Hotspots zeigt: Ohne einen klar definierten rechtlichen und vor allem humanitären Rahmen kann das europäische Asylsytem dadurch für viele Menschen zu einer Sackgasse werden, die keinen Schutz birgt, sondern Ausgrenzung produziert.
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