MEDIENDIENST: Sie forschen seit mehreren Jahren zur Situation an der griechisch-türkischen Grenze und waren im griechischen Kastanies, als die türkische Regierung die Grenzen "geöffnet" hat. Was haben Sie beobachtet?
Vassilis Tsianos: Viele Schutzsuchende haben sich am Grenzübergang von Kastanies versammelt, als die Türkei angekündigt hat, keine Geflüchteten mehr an der Weiterreise zu hindern. Zu Anfang gab es am Checkpoint Katanies insgesamt 20 Grenzpolizisten, die mit allen Mitteln versucht haben, den Grenzübergang zu schließen. Nach vier Stunden rückten weitere Polizisten mit Wasserwerfern an. Da wurde es schnell klar, dass die Geflüchteten es auf keinen Fall über die türkisch-griechische Grenze schaffen würden. Es kam zu gewaltsamen Ausschreitungen.
Die türkische Regierung sprach von mehreren zehntausend Flüchtlingen, die es über die Grenze geschafft haben sollen.
Das entspricht aber nicht der Realität. Nur wenige hunderte Geflüchtete schafften es vergangene Woche über die Grenze. Denn die ganze Grenzregion ist sehr streng überwacht – und zwar nicht erst seit der vermeintlichen "Grenzöffnung" durch die Türkei. In den ersten Tagen wurden die Geflüchteten in der Regel gleich festgenommen und ins Niemandsland zwischen den militarisierten Grenzzonen zurückgewiesen. Wenn Schutzsuchende jetzt im Landesinneren aufgegriffen werden, werden sie von der Polizei ins Gefängnis gesperrt. Dasselbe geschieht auch mit den Flüchtlingen, die auf dem Meer aufgegriffen werden. Ihnen droht eine Geldstrafe von 10.000 Euro und eine vierjährige Haftstrafe – es sei denn, sie erklären sich dazu bereit, "freiwillig" auszureisen.
Prof. Dr. VASSILIS TSIANOS unterrichtet am Institut für "Soziale Arbeit und Gesundheit" der Fachhochschule Kiel. Er ist Projekt-Koordinator des Forschungs-Schwerpunktes „Border crossings“ im EU-Projekt "transnational digital network" (MIG@NET) und Mitglied des "Rats für Migration". Er hat mehrere Publikationen zum Thema Grenzpolitik in der EU veröffentlicht.
Wie wird die Grenze überwacht?
Es ist ein sehr komplexes – und nicht besonders transparentes – System. Wenn Flüchtlinge es über die Grenze schaffen, gelangen sie häufig in die Hände von einer der Gruppen, die entlang der Grenze patrouillieren. Es gibt selbstorganisierte Gruppen von lokalen Bauern, die mit Schrotflinten herumlaufen. Es gibt darüber hinaus eine sogenannte nationale Bürgerwehr, in deren Reihen sich Rechtsextreme und Anti-Einwanderungs-Aktivistinnen und -Aktivisten mischen. Dann gibt es Gruppen von Männern mit Skimasken und Tarnkleidung, die Flüchtlinge abfangen, einsammeln und in kleinen Schlauchbooten zurück auf die türkische Seite des Evros-Flusses bringen. Sie tragen zwar keine Abzeichen, fahren jedoch die gleichen Autos wie Grenzpolizisten – das dokumentieren Fotos, die wir gesammelt haben. Polizisten haben mir gegenüber bestätigt, dass sie hin und wieder ohne Abzeichen an der Grenze unterwegs sind. Darüber hinaus gibt es jetzt auch das Militär, das an der sogenannten grünen Grenze patrouilliert.
Sind diese Methoden legal?
Absolut nicht. Sowohl die Genfer Flüchtlingskonvention als auch die Europäische Menschenrechtskonvention verbieten es ausdrücklich, Schutzsuchende ohne Weiteres an den Grenzen der Europäischen Union abzuweisen. Und dennoch: Illegale Zurückweisungen – sogenannte Pushbacks – finden seit vielen Jahren an der Evros-Grenze statt. Menschenrechtsorganisationen, Migrationsforscherinnen und -forscher und Rechtsanwältinnen und -anwälte in Deutschland und in Griechenland versuchen schon seit langem, gerichtlich dagegen vorzugehen. Bis jetzt ohne Erfolg.
Der Beschluss der griechischen Regierung, das Asylrecht für einen Monat aufzuheben, wird die Lage nicht verbessern.
Sicher nicht. Einige meiner Kolleginnen und Kollegen haben versucht, gemeinsam mit Vertretern des UN-Flüchtlingshilfswerks zur Grenze zu gelangen, um mit den Geflüchteten im Niemandsland zwischen der Türkei und Griechenland zu sprechen. Doch die Polizei hat sie daran gehindert. Man merkt, dass die Grenzpolitik viel strenger geworden ist. "Pushbacks" gab es an der Evros-Grenze schon immer. Doch sowohl die griechische Regierung als auch die Europäische Union wollten offiziell nichts davon wissen. Die linksorientierte Regierung von Alexis Tsipras dementierte, dass Flüchtlinge zurückgewiesen wurden. Unter der neuen konservativen Regierung finden "Pushbacks" hingegen in aller Öffentlichkeit statt – sowohl am Evros als auch auf hoher See. Denn sie werden als notwendige Maßnahme zum Schutz der europäischen Grenze angesehen. So sind kollektive "Pushbacks" zur Norm geworden. Auch die Griechen sind mehrheitlich dafür, dass die Regierung harte Maßnahmen ergreift, um Flüchtlinge fernzuhalten. Dadurch wird eines der fundamentalen Prinzipien des internationalen Asylrechts ausgehöhlt: Das sogenannte non-refoulment-Prinzip. Es bestimmt, dass kein Mensch ohne Weiteres in eine lebensbedrohliche Situation zurückgeschickt werden kann.
Wollen Sie dagegen vorgehen?
Wir haben mehrere Fälle von illegalen Zurückweisungen dokumentiert. Das Ziel ist es, diese Fälle vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) zu bringen. Allein die Aussagen von Geflüchteten reichen aber nicht. Die Bilder der vergangenen Tage lassen keinen Zweifel daran, wie gewaltsam und unmenschlich "Pushbacks" sein können. Zwei Geflüchtete sollen sogar erschossen worden sein. Allerdings müssen wir sehr vorsichtig sein, denn einige Videos und Fotos, die in türkischen Medien kursierten, haben sich als Fälschungen erwiesen.
Rechtsextreme Organisationen aus Deutschland haben ihre Mitglieder dazu aufgerufen, nach Griechenland zu reisen, um sich den Grenz-Milizen anzuschließen. Haben Sie viele solche Gruppen beobachtet?
Kaum. Die "Identitäre Bewegung" soll eine kleine Aktion an der Grenze organisiert haben. Sie versucht offensichtlich, die Aufregung zu nutzen, um Sichtbarkeit zu gewinnen. Man sollte sie ignorieren. Anders ist die Situation auf der Insel Lesbos, wo organisierte Rechtsextreme Flüchtlinge und Mitarbeiter der Nichtregierungs-Organisationen terrorisieren. Innerhalb einer Woche gab es zwei Brandanschläge auf Aufnahmeeinrichtungen. Für die Geflüchteten, die bereits in sehr prekären Unterbringungen leben – ohne Wasser und medizinische Versorgung – ist die Lage kritisch.
Die Bundesregierung will jetzt gemeinsam mit anderen europäischen Staaten minderjährige Flüchtlinge, die auf den griechischen Inseln sind, aufnehmen. Nach Deutschland sollen etwa 1.500 unbegleitete Minderjährige unter 14 Jahren kommen, vor allem Mädchen und kranke Kinder. Wird das helfen?
Jeder Versuch, Kinder aus diesen dramatischen Umständen zu retten, ist sehr zu begrüßen. Doch die Bundesregierung will offenbar nur eine bestimmte Gruppe von Kindern nach Deutschland holen. Dabei verkennt sie zwei wichtigen Tatsachen. Erstens: Unter den unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen, die Griechenland erreichen, gibt es sehr wenige Mädchen. 2019 waren es 274 gegen mehr als 3.000 Jungs, die Asyl beantragt haben. Und zweitens: Das Leben auf Lesbos ist für alle unbegleiteten Minderjährigen – egal ob Jungs oder Mädchen – sowie für Familien mit Kindern absolut unmöglich.
Interview: Fabio Ghelli
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