Etwa 126.000 Personen haben in den ersten fünf Monaten 2023 zum ersten Mal einen Asylantrag in Deutschland gestellt. Die meisten von ihnen kamen aus Syrien, Afghanistan und der Türkei – aber auch einige aus dem Iran, Irak, Russland, Eritrea und Venezuela. Es sind 77 Prozent mehr erstmalige Asylbewerber*innen als im Vorjahreszeitraum. Auch in anderen europäischen Ländern ist die Zahl der Schutzsuchenden in diesem Jahr gestiegen.
Die EU-Staaten haben sich nach langen Verhandlungen der EU-Innenminister*innen auf eine Reform des Europäischen Asylsystems geeinigt, die strengere Kontrollen und beschleunigte Asylverfahren an den Grenzen der Europäischen Union ermöglichen würde. Ziel der Reform ist, unerlaubte Einreisen in die EU zu reduzieren. Dafür sollen geschlossene Einrichtungen an den Außengrenzen eingerichtet werden, in denen Schutzsuchende nach dem Muster der "Hotspots" in Griechenland und Italien sortiert werden sollen.
Migrationsforscher*innen weisen darauf hin, dass eine derartige Reform auf der einen Seite rechtlich problematisch sein könnte. Auf der anderen fußt sie auf einer Vorstellung von Flucht- und Migrationsrouten, die die tatsächliche Entwicklung der Routen kaum berücksichtigt. Denn die Routen, über die Geflüchtete und Migrant*innen Europa erreichen, sind in den vergangenen Jahren viel unübersichtlicher geworden.
Während 2015-2016 viele Flüchtlinge über einen nahezu direkten Weg über die Türkei nach Griechenland, den Westbalkan und Mitteleuropa reisten, kommen Migrant*innen und Geflüchtete derzeit über weite Umwege und abgelegene Routen nach Europa. In den "Asylzentren" an den Grenzen würde deshalb nur ein Teil der Geflüchteten landen. Die meisten würden noch längere und gefährlichere Routen wählen, um die "Hotspots" zu umgehen.
Wie kommen Geflüchtete nach Europa?
Prinzipiell gilt: Personen, die Asyl in der Europäischen Union beantragen wollen, müssen sich auf EU-Boden befinden. Nur wenige Schutzsuchende können mit einem Visum einreisen – in Deutschland waren es 2022 rund zehn Prozent der erstmaligen Antragsteller*innen.
Die meisten Schutzsuchenden erreichen Europa und Deutschland über tausende Kilometer lange "Fluchtrouten". "Wenn wir von Fluchtrouten sprechen, stellen sich die meisten Menschen Korridore vor, die von A nach B führen. Die Realität ist allerdings viel komplexer", sagt der Migrations- und Grenzforscher Bernd Kasparek vom Berliner Institut für empirische Integration- und Migrationsforschung.
Anders als 2015-2016 würden viele Schutzsuchende derzeit über weite Umwege ihre Zielländer erreichen. Das habe damit zu tun, dass viele Routen schon jetzt streng überwacht würden, sagt Kasparek: "Da Geflüchtete in der Ägäis zum Beispiel von der griechischen Küstenwache in Richtung Türkei zurückgeschoben werden – bei sogenannten Pushbacks – müssen sie längere, gefährlichere Routen suchen." Ein Boot, das im März vor der italienischen Küste gesunken ist und 94 Menschen in den Tod gerissen hat, war zum Beispiel aus der Türkei gestartet.
"Fluchtrouten können innerhalb von Tagen entstehen und wieder verschwinden", sagt Luca Queirolo Palmas, Professor für Soziologie der Migration in Genua und Leiter des Projektes "Solroutes" über die Entwicklung von Fluchtrouten. Sie werden zudem zunehmend individuell: "In Frankreich haben wir eine Person kennengelernt, die aus Marokko in die Türkei gereist war, um über den Westbalkan nach Mitteleuropa zu gelangen und von dort zur eigenen Familie nach Spanien zu reisen", sagt Queirolo Palmas. Derartige "antigeographische Routen" kämen immer öfter vor.
"Geflüchtete und Migrant*innen werden oftmals von der Politik als Spielfiguren gesehen, die hin und her bewegt werden können – sei es von Schleusern oder von der Grenzpolizei auf beiden Seiten der Grenzen", sagt der Soziologe. Das stimme aber nicht: "Migrant*innen sind Akteure, die sich vernetzen und austauschen. Wenn ihnen ein Weg versperrt wird, suchen sie einen anderen." Sie würden Solidaritätsnetzwerke aufbauen und ihr Wissen über Routen und Grenzen anderen Migrant*innen zur Verfügung stellen.
Je strenger die Grenzkontrollen, desto länger und gefährlicher würden die Umwege, so Queirolo Palmas. Und je länger und gefährlicher die Wege, desto teurer würden die Dienste der Schleuser und anderer Akteure, die am Grenz-Geschäft beteiligt sind.
Wie haben sich die Migrationsrouten 2023 entwickelt?
Ein Blick auf die Flüchtlingszahlen entlang der Hauptrouten, die aus dem Nahen Osten und Afrika nach Europa führen, zeigt: Es ist nahezu unmöglich, genau zu wissen, wer über welche Route in welches Land gekommen ist. So ist zum Beispiel die Zahl der Schutzsuchenden, die in den ersten fünf Monaten 2023 zum ersten Mal in Deutschland einen Asylantrag gestellt haben (125.000 Menschen), deutlich höher als die Summe der Geflüchteten, die in der gleichen Zeit Italien (51.000 Menschen), Griechenland (rund 6.000) und Spanien (etwa 8.000) erreicht haben.
Deutschland
Die Bundespolizei zählte im ersten Quartal 2023 rund 20.000 "unerlaubte Einreisen" nach Deutschland. Das sind rund 54 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum. Die Zahl der "unerlaubten Einreisen" ist nur bedingt aussagekräftig, denn nicht alle einreisende Personen werden von der Bundespolizei im Grenzgebiet aufgegriffen.
Von ihnen kamen rund 3.700 Menschen über die österreichische, etwa 3.000 über die schweizerische und rund 1.500 über die tschechische Grenze. Die meisten von ihnen kamen aus Syrien, Afghanistan und der Türkei.
Etwa 4.000 Menschen wurden im ersten Quartal an der deutsch-polnischen Grenze aufgegriffen – vor allem Syrer*innen, Afghan*innen und Ägypter*innen. Ungefähr die Hälfte von ihnen soll über Belarus nach Polen und schließlich nach Deutschland gelangt sein.
Polen
Seit 2021 reisen viele Menschen vor allem aus dem Irak, aber auch aus Syrien, Afghanistan und Ägypten nach Belarus und versuchen dann, über die Grenze der EU zu gelangen.
Zwischen Januar und Mai 2023 zählte die polnische Grenzpolizei rund 11.600 versuchte Grenzübertritte aus Belarus. Die belarusische Regierung soll Personen aus Drittstaaten aktiv anwerben und sie zum Teil durch Anwendung von Gewalt dazu zwingen, die EU-Grenzen zu überschreiten.
Die polnische Regierung hat daraufhin die Grenzkontrollen verschärft und einen 186 Kilometer langen Grenzzaun gebaut. Mindestens 45 Personen sind seit 2021 im Grenzgebiet gestorben.
Griechenland
Seit dem Abkommen zwischen der Türkei und den EU-Mitgliedstaaten 2016 ist die Zahl der Geflüchteten, die nach Griechenland über die Türkei kommen, relativ gering geblieben. Rund 4.800 Personen haben Griechenland zwischen Januar und Mai 2023 über den Seeweg erreicht.
Die überwiegende Mehrheit der Menschen, die versuchen, die griechischen Inseln zu erreichen, werden von der türkischen Küstenwache aufgegriffen – 2022 waren es mehr als zwei Drittel aller versuchten Überfahrten. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass die griechische Küstenwache Boote mit Geflüchteten auf hoher See zurückschiebt (Pushbacks).
Von den Geflüchteten, die in diesem Jahr Griechenland erreicht haben, waren die meisten Palästinenser*innen und Afghan*innen. Rund 1.300 Personen schafften es zudem über die Landesgrenzen in der Nähe des Flusses Evros. Seit 2012 gibt es an der griechisch-türkischen Grenze einen ca. 35 Kilometer langen Grenzzaun. Auch hier wurden gewaltsame Pushbacks festgestellt.
Serbien und Westbalkan
Die sogenannte Westbalkan-Route gilt als die Hauptroute für Personen, die aus dem Nahen Osten in Richtung Mitteleuropa flüchten. Es ist sehr schwierig festzustellen, wie viele Personen über die "Westbalkan-Route" aus Griechenland oder Bulgarien nach Mitteleuropa gelangen. Allein in Serbien sollen nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR im ersten Quartal 2023 mehr als 16.000 Personen angekommen sein. Das wären 161 Prozent mehr als im Vorjahreszeitraum.
Da jedoch viele der Personen, die durch die Westbalkan-Region reisen, wiederholt an verschiedenen Grenzen zurückgeschoben und mehrfach registriert werden, schätzt der UNHCR, dass die reale Zahl der Personen, die im ersten Quartal 2023 durch die Region gereist sind, bei ungefähr 4.000 liegt. Zum Teil gewaltsame Zurückschiebungen von Migrant*innen und Geflüchteten wurden an der ungarischen, rumänischen, kroatischen, albanischen und nordmazedonischen Grenze dokumentiert.
Italien
Italien ist das europäische Land, das aktuell die meisten Migrant*innen und Geflüchtete aus Afrika zunächst erreichen. In der Regel fahren sie entlang der sogenannten zentralen Mittelmeer-Route von Libyen oder Tunesien aus. Zwischen Januar und Mai 2023 kamen so in Italien mehr als 51.000 Menschen an – das sind über 2,6 Mal so viele wie im Vorjahreszeitraum. Die meisten Geflüchteten und Migrant*innen, die Italien erreichen kommen aus der Elfenbeinküste, Guinea und Ägypten.
Grund für den Anstieg der Flüchtlingszahlen sind die vielen Migrant*innen aus Afrika südlich der Sahara, die aus Tunesien aufgrund von rassistischer Gewalt fliehen mussten. Im ersten Quartal 2023 hat Tunesien mit rund 16.000 versuchten Überfahrten Libyen als Startpunkt für die Überfahrt im zentralen Mittelmeer abgelöst.
Viele Migrant*innen und Geflüchtete auf der zentralen Mittelmeer-Route werden von libyschen und tunesischen Kräften aufgegriffen – im Jahr 2022 waren es rund ein Drittel aller Menschen, die die Überfahrt versucht haben. Zahlreiche Berichte werfen den libyschen Milizen, die im Mittelmeer patroullieren, vor, sie würden Migrant*innen gewaltsam festnehmen und foltern. Die zentrale Mittelmeer-Route ist auch die gefährlichste Route im Mittelmeer: Allein in den ersten fünf Monaten 2023 wurden auf dieser Route mehr als 1.000 Todesfälle dokumentiert.
Spanien
Die Zahl der Personen, die aus Westafrika Spanien erreichen, ist 2023 zurückgegangen und lag zwischen Januar und Mai bei rund 8.200 Personen. Etwa die Hälfte von ihnen reiste zu den Kanarischen Inseln im Atlantischen Ozean. Die Route zu den Inseln gilt als eine der gefährlichsten Routen weltweit. In den ersten fünf Monaten 2023 wurden hier 577 Todesfälle dokumentiert. Die Dunkelziffer ist jedoch viel höher. Nur rund 200 Personen haben die Grenzen bei den spanischen Exklaven von Ceuta und Melilla überquert. Der Grenzzaun um die Exklaven wurde in den 90er Jahren fertiggestellt.
Von Fabio Ghelli, Martha Otwinowski und Julian Rybacki
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