Der Artikel erschien erstmals am 20. April 2023, aus aktuellem Anlass präsentieren wir ihn erneut.
Nach etwa dreijährigen Verhandlungen hat das Europäische Parlament über seine Position zum umfassenden Reformplan des gemeinsamen Asylsystems entschieden, den die EU-Kommission im September 2020 vorgelegt hat. Die Gesetzesänderungen müssen noch mit dem Europäischen Rat verhandelt werden.
Der Plan umfasst unter anderem folgende Maßnahmen:
- ein sogenanntes Screening-Verfahren für alle Drittstaatsangehörigen, die irregulär in die EU einreisen
- ein beschleunigtes Asylverfahren an den Außengrenzen
- einen Krisen-Mechanismus im Fall von starker Zuwanderung.
- ein Umverteilungs-System (Relocation) für Asylbewerber*innen aufgrund von freiwilligen "Aufnahmeversicherungen" der einzelnen Staaten (pledges)
- Bei der "Relocation" sollen familiäre oder sonstige Beziehungen zu einem bestimmten Mitgliedstaat berücksichtigt werden.
Screening und Asylverfahren an den Außengrenzen (border procedure)
Menschen, die irregulär die EU-Außengrenzen überqueren, sollen in Zukunft zunächst ein "Screening"-Verfahren durchlaufen. Dabei soll geprüft werden, in welchem Gesundheitszustand sie sind und ob sie als besonders schutzbedürftig gelten. Zudem sollen biometrische Daten wie etwa Fingerabdrücke erfasst und ihre Identität festgestellt werden. Das Verfahren soll im Regelfall maximal fünf Tage dauern. Am Ende des Verfahrens sollen Zugewanderte an die zuständigen Stellen für das Asyl- beziehungsweise Rückkehr-Verfahren überwiesen werden.
Schutzsuchende, die aus sogenannten sicheren Herkunftsstaaten kommen oder Falschangaben bei der Identitätsfeststellung gemacht haben, sollen in einem beschleunigten Verfahren an der Grenze (border procedure) ihr Asylgesuch stellen. Das Verfahren soll maximal 12 Wochen dauern. Für die Gesamtdauer des Screening- und beschleunigten Asylverfahrens ist vorgesehen, dass die Mitgliedstaaten die Asylbewerber*innen an der Weiterwanderung hindern können.
Es wird erwartet, dass die Mitgliedstaaten unabhängige Prüfstellen einrichten, die dafür sorgen sollen, dass die Menschenrechte der Schutzsuchenden geschützt werden. Insbesondere sollen diese Stellen vermeiden, dass Schutzsuchende in Länder zurückgeschoben werden, in denen ihnen Gewalt oder Folter drohen.
Krisen-Mechanismus
Wenn ein EU-Mitgliedstaat mit einer unerwartet hohen Zuwanderung konfrontiert wird, soll er die Möglichkeit haben, in Abstimmung mit der EU-Kommission, Sonderregeln einzuführen. Dabei sollen ankommende Geflüchtete in einem beschleunigten Verfahren auf andere Mitgliedstaaten verteilt werden können, die wiederum verpflichtet sind, diese aufzunehmen. Außerdem soll er die Möglichkeit haben, strengere Grenzkontrollen einzuführen und Geflüchtete länger für Screening und Asylverfahren in den Transitzonen festhalten zu können.
Die Kritik
Die geplanten Maßnahmen sind heftig umstritten. Organisationen für die Rechte von Geflüchteten – wie etwa der Europäische Flüchtlingsrat ECRE – kritisieren insbesondere die sogenannte Fiktion der Extraterritorialität, die als Grundlage für Screening und beschleunigte Grenzverfahren gilt. Diese Maßnahme sieht vor, dass irreguläre Zuwanderer so behandelt werden können, als ob sie noch nicht den Boden der Europäischen Union betreten hätten. Schutzsuchende im Screening- und Asylverfahren hätten somit nach den Plänen nur einen eingeschränkten Anspruch auf rechtliche Beratung oder das Recht, gegen einen Beschluss zu klagen. Auch könnten die Mitgliedstaaten sie für die Dauer des Verfahrens ohne weitere Begründung festhalten.
Mehrere europäische Staaten verwenden bereits ähnliche Grenz-Verfahren. Dazu gehört etwa das deutsche Flughafenverfahren. Laut einer Analyse der Flüchtlingshilfsorganisation "Pro Asyl", die Entscheidungen im Flughafenverfahren untersucht hat, können Beschlüsse in derartigen Grenzverfahren kaum Rücksicht auf den psychischen und physischen Zustand der Schutzsuchenden nehmen und führen oftmals zu mangelhaften Urteilen.
Von Fabio Ghelli
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