Der Politikwissenschaftler Dr. Mahmoud Jaraba forscht seit 2015 zu arabischen, türkischen und kurdischen Großfamilien – oft als „Clans“ oder „Mhallamiye“ bezeichnet – in Deutschland. Bei seiner Feldforschung hat er über Jahre hinweg den Alltag von Angehörigen der Familien begleitet und mehrere Hundert Interviews mit ihnen sowie mit Vertreter*innen aus Polizei, Behörden und Sozialarbeit geführt. Seit drei Jahren legt Jaraba zudem einen Forschungsschwerpunkt auf die Situation von Frauen in den Großfamilien.
Zur vollständigen Expertise "Clans und Clankriminalität"? Die Mhallamiye Großfamilien in Deutschland hier (PDF).
Zum MEDIENDIENST-Factsheet "Clankriminalität": Polizeiarbeit und Lageberichte hier (PDF).
Lange Geschichte von Unterdrückung und Vertreibung
Die Familien blicken auf eine lange Geschichte der Unterdrückung und Vertreibung zurück: In der Türkei wurden die Großfamilien als ethnische Minderheit („Mhallamiye-Kurden“) systematisch unterdrückt und vom politischen und gesellschaftlichen Leben ausgegrenzt. Viele flohen in den Libanon. Dort wurden sie weder rechtlich als Staatsbürger, noch faktisch als gleichberechtigte Mitglieder der Gesellschaft anerkannt: Sie arbeiteten unter prekären Bedingungen, hatten kein Wahlrecht und keinen Zugang zu Bildung oder Sozialleistungen. Infolge des libanesischen Bürgerkrieges (1975–1990) flohen viele Angehörige der Großfamilien nach Deutschland.
Auch in Deutschland wurden sie in ein Leben am Rande der Gesellschaft gedrängt: Die deutsche Politik verschärfte in diesen Jahren das Asyl- und Aufenthaltsrecht sowie die Regelungen zur Arbeitserlaubnis, zur Einbürgerung und zum Zugang zu Bildung. Auch die Sozialhilfe wurde massiv gekürzt. Hinzu kam, dass die Familien nicht als Flüchtlinge anerkannt wurden, obwohl sie vor dem Bürgerkrieg geflohen waren – stattdessen wurden sie als „Staatenlose“ oder mit dem Vermerk „ungeklärte Staatsangehörigkeit“ registriert.
In der Folge bekamen die meisten keinen festen Aufenthaltstitel, sondern lediglich eine Duldung. Bis heute befinden sich einige Angehörige der Großfamilien im Status einer Duldung, manche von ihnen in der sogenannten Kettenduldung: Alle sechs Monate müssen sie zur Ausländerbehörde, um die Duldung zu verlängern, sie können nicht frei reisen, nicht standesamtlich heiraten und haben nur eingeschränkte Arbeits- und Ausbildungsmöglichkeiten. Stabilität und Zukunftsplanung sind für sie dadurch kaum möglich.
Mehr zur Geschichte finden Sie in Kapitel 2 der Expertise hier (PDF).
Von "Clan"-Oberhäuptern und "Clankriminalität"
Die Großfamilien sind laut Jaraba keine zusammenhängenden, homogenen Gruppen: Die ursprünglich nahen Verwandtschaftsverhältnisse der Großfamilien hätten sich über die Jahrzehnte ausdifferenziert. Heute würden sich die meisten Familienmitglieder untereinander nicht kennen. Somit gebe es auch keine zentrale Führungsperson des jeweiligen Gesamt-„Clans“. Wenn es unter Angehörigen der Großfamilien starke Familienverbünde gebe, handele es sich nicht um einen „Gesamt-Clan“, sondern um viel kleinere Gruppierungen innerhalb von Kernfamilien.
Das von Politik und Polizei gezeichnete Bild der „Clankriminalität“ entspricht laut Jaraba nicht der Realität: Zwar gebe es unter Angehörigen der Großfamilien Kriminalität. Diese werde aber nicht innerhalb von „Clans“ organisiert, sondern entweder außerhalb des Familienkontextes oder, wenn im Familienkontext, innerhalb der Kernfamilien. Auch die polizeiliche Darstellung der Kriminalität aus „ethnisch abgeschotteten Subkulturen“ ist laut Jaraba irreführend. Im Gegenteil sei dort, wo es unter Angehörigen der Großfamilien zu Kriminalität oder sogar organisierter Kriminalität komme, eine ausgesprochen starke Vernetzung in die Mehrheitsgesellschaft und mit anderen ausländischen Akteuren zu beobachten.
Die große Mehrheit der Angehörigen der Familien lehnt laut Jaraba Kriminalität ab und wünscht sich eine gezielte und effektive Kriminalitätsbekämpfung. Dabei sollten aber muslimische Menschen und Angehörige der Großfamilien nicht unter Generalverdacht gestellt werden. Die „Politik der 1.000 Nadelstiche“ bzw. die „Null-Toleranz-Politik“ seien stigmatisierend und führten unter den Betroffenen zu sozioökonomischen Problemen und zu einem Vertrauensverlust gegenüber der Polizei.
Mehr zum Thema Kriminalität finden Sie in Kapitel 4 der Expertise hier (PDF).
Die Situation von Frauen
Seit drei Jahren legt Jaraba in seiner Forschung einen Schwerpunkt auf die Situation von Frauen. Die meisten Frauen der ersten Einwanderer-Generation, die aus dem Libanon oder der Türkei nach Deutschland kamen, hatten keine formale Bildung. In Deutschland kam die restriktive Asylpolitik der 1980er Jahre hinzu: Viele Frauen lebten lange Zeit in einem temporären und unsicheren Aufenthalt. Sie hatten kaum Möglichkeiten, Deutsch zu lernen, sich zu bilden oder zu arbeiten. Eine weitere Schwierigkeit war laut Jaraba das Rollenbild der Frau in der Generation: Für die Frau sei typischerweise eine frühe Heirat und die Kindererziehung vorgesehen gewesen, eine persönliche Entwicklung oder sogar Karriereziele hingegen nicht. Die Situation sei von einem Teufelskreis zwischen Abhängigkeit von der Familie und gesellschaftlicher Marginalisierung gekennzeichnet gewesen.
Die Lebenssituation der jüngeren Frauen unterscheidet sich laut Jaraba stark von der der älteren Generation. So würden etwa immer mehr Frauen mittlerweile die Schule abschließen und eine Ausbildung oder ein Studium aufnehmen. Allerdings werde seitens der Familien teilweise Bildung für Frauen nach wie vor nicht als Priorität angesehen. Zudem würden die Frauen von der Gesamtgesellschaft regelmäßig Diskriminierung wegen ihrer Zugehörigkeit zu einer Großfamilie oder als Muslim*innen erfahren – etwa im Ausbildungs- oder Arbeitskontext.
Ein weiterer Bereich, der laut Jaraba dem Wandel unterliegt, sind Eheschließungen: Traditionell seien Ehen in den Großfamilien vorrangig innerhalb der Familie oder der weiteren Verwandtschaft arrangiert worden. Dieses Muster beginne sich zu wandeln: Immer mehr junge Menschen, sowohl Frauen als auch Männer, wählten Partner außerhalb ihrer Verwandtschaft oder ganz außerhalb der Community, was einen signifikanten Bruch mit den traditionellen Normen und Praktiken darstelle.
Mehr zur Situation von Frauen finden Sie in Kapitel 5 der Expertise hier (PDF).
Von Donata Hasselmann
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